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Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir

Fluxus-Oratorium von Christoph Schlingensief

Aufführungsdauer: ca. 2h 10' (eine Pause)


Uraufführung in der Gebläsehalle im Landschaftspark Duisburg-Nord am 21. September 2008
(rezensierte Aufführung: 26.09.2008)

Logo: RUHRtriennale 2008

„Wer seine Wunden zeigt, wird geheilt“

von Ursula Decker-Bönniger / Fotos von Ursula Kaufmann

Im Januar diesen Jahres erhielt der 47 Jahre alte Film-, Theater- und Opernregisseur Christoph Schlingensief die Diagnose Lungenkrebs. Sein Überlebenskampf begann mit Operation, Chemotherapie und Bestrahlung und - mit einer schonungslosen, anklagenden Offenbarung seiner seelischen Wunden als „Fluxus-Oratorium“, wobei mit dem Begriff „Oratorium“ wohl weniger die musikalische Gattung als ein religiöser Versammlungsraum gemeint ist.

Die RuhrTriennale-Kreation trägt den Titel Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir und wurde am 21.September 2008 in der Gebläsehalle des ehemaligen Stahlwerkes im Duisburger Norden uraufgeführt. Während unten die Maschinenanlagen ruhen, betritt man auf einer zweiten Ebene einen nachgestellten, faszinierend real wirkenden Kirchenraum. Sogar das Fensterglas der neoromanischen Rundbogenfenster - der Gebäudekomplex stammt noch aus dem Jahre 1902, der Gründungsphase des Stahlwerkes – wurde ausgetauscht, um an Herz Jesu in Oberhausen, die Kirche der Kindheit und Messdienerzeit Schlingensiefs, zu erinnern. Die Zuschauer nehmen auf Kirchenbänken Platz. Auf der linken Seite der Apsis befindet sich ein rot ausgeleuchteter Tabernakel, dessen Monstranz anstelle des gewandelten Brotes einen Ausschnitt seiner Lungen-Röntgenaufnahme zeigt. Chorraum, Altar und Ambo, das erhöhte Pult für die gottesdienstlichen Lesungen, sind noch von einem Vorhang verdeckt. Drei von der Decke hängende Projektionsflächen trennen Gemeinde- und Altarraum. Leichte Weihrauchschwaden und an Grablichter erinnernde, schummrige Kerzenbeleuchtung komplettieren das Bild.


Vergrößerung in neuem Fenster Messfeier mit kleinwüchsigem Bischof und Kinderchor

Klangbeispiel Klangbeispiel: Fürbitten
(MP3-Datei)

Mit Schwarz-Weiß-Projektionen von Zellteilungsvorgängen, die zu einer Kugel, Weltkugel verschmelzen und einem inständigen, weinerlichen Flehen „Nicht berühren, jetzt nicht berühren“, einem sehr persönlichen, dramatischen Tonzeugnis, beginnt die Liturgie. Solche Ausschnitte aus den im Krankenhaus entstandenen Audiotagebüchern spannen sich wie ein roter Faden durch die „Feier“. Sie handeln von Leiden, körperlicher Grenzerfahrung und Abschiednehmen, von Einsamkeit, Selbstzweifeln und Schuldgefühlen aber auch von einer „Wandlung“, einem neu entfachten Lebenshunger, der mit dem Wunsch schließt, „das Kind und ich, wir wollen beide nichts mehr als einfach (zu) leben“. Vorgetragen werden sie auch von Margit Carstensen und Angela Winkler - letztere singt sie manchmal sogar wie ein frei improvisiert wirkendes Melismenband mit lyrisch schlankem, engelsgleichen Sopran. Parallel dazu werden schwarz-weiße Super-8-Filmausschnitte von berühmten Fluxus-Aktionen gezeigt, manchmal überlagert von Schattenspielen und kombiniert mit dem zitternden, verwesenden Hasen aus der Bayreuther Parsifal-Inszenierung. Immer wieder erscheinen auf den Leinwänden auch Szenen aus eher privaten Filmen, die Schlingensief als Kind in Ferien an der See oder beim Einseifen, den „rituellen Waschungen“ festhalten. Die Bühne wechselt zwischen Altar und Krankenhausbett.


Vergrößerung in neuem Fenster Zusammenspiel von Projektionsflächen und Bühne mit verwesendem Hasen

Klangbeispiel Klangbeispiel: Angela Winkler
(MP3-Datei)

Daneben, etwa als Lesungstext, hört man Gedanken Hölderlins über Schönheit und Fesseln des Lebens, die Kunst und die Liebe als widerstreitende Triebe, lauscht dem Tristan-Motiv oder Ausschnitten des von Gustav Mahler vertonten Rückert-Gedichts „Ich bin der Welt abhanden gekommen“, das die beiden Sopranistinnen Friederike Harmsen und Ulrike Eidinger zu einer Orchestereinspielung live singen. Eine aufkommende, romantisch lyrische Klangseeligkeit, die Sehnsucht des Künstlers nach einer Welt, in der sein Geist zur Ruhe kommen könnte, wird jäh unterbrochen von einer Schar auf die Bühne eilender Ministranten und Chorkinder, deren gespielt falscher Kirchenliedeinsatz auch mit einem „Pst“ nicht aufgehalten werden kann.

Die Mischung verschiedener Medien, von Kunst und Wirklichkeit, das Spiel mit liturgischen Ritualen, zu denen auch der wütende Fürbittenschrei „Wir bitten dich erhöre uns" gehört oder die platte Korrektur der Jesusworte am Kreuze, der Auftritt eines kleinwüchsigen Bischofs und der Aufmarsch farbiger Gospelsänger u.v.a.m., erreicht seinen Höhepunkt, als Schlingensief selbst die Bühne betritt und als Priester die Wandlungsworte „Dies ist mein Leib, der für euch hingegeben wird" spricht. Anschließend brausen anstelle der Klingelzeichen laute, wild-aggressive Schlagzeugklänge auf.

Und der Schluss? Ohne Segen, Gruß, Worte oder Gesang verlassen die Mitwirkenden die Bühne. Sie halten zunächst wild durcheinandertickende und dann nach und nach aussetzende Metronome in den Händen halten, bis der letzte Impuls verstummt.


FAZIT

Statt “Requiem“ oder „Auferstehungsfeier“ wirkte es auf mich eher wie ein selbsttherapeutischer Akt der Befreiung, der in einem weniger spektakulären Rahmen an Glaubwürdigkeit gewonnen hätte.




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Produktionsteam

Konzept und Regie
Christoph Schlingensief

Bühne
Thomas Goerge
Thekla von Mülheim

Kostüme
Aino Laberenz

Licht
Voxi Bärenklau

Filmmontage und Video
Heta Multanen

Dramaturgie
Carl Hegemann

Komposition, Schlagzeug
Michael Wertmüller

Korrepetitor, Orgel
Dominik Blum

Choreinstudierung
Alexander Ebrle


Gospel-Chor Angel Voices

Kinderchor des Aalto-Theaters Essen


Solisten

Margit Carstensen
Angela Winkler /
Anne Tismer (23.9.08)
Mira Partecke
Komi Mizrajim Togbonou
Stefan Kolosko
Karin Witt
Horst Gelonnek
Kerstin Grassmann
Norbert Müller
Achim von Paczensky
Klaus Beyer

Sängerinnen
Friederike Harmsen
Ulrike Eidinger


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