Puccinis Opern zählen allein nach der Aufführungszahl weltweit zu den erfolgreichsten auf den Bühnen zugleich aber auch zu den am meisten umstrittenen. Die Regietheaterfraktion pflegt Puccini nur mit spitzen Fingern anzufassen, auch wenn im Frühjahr 2006 in Stuttgart Monique Wagemakers "Madama Butterfly" (Dramaturgie: Klaus Zehelein) aus der verstaubten Ecke der Repertoire-Routine in das helle Licht wahrhaftigen Musiktheaters geholt hat. Puccini gilt vielen nach wie vor als Repräsentant eines rein kulinarischen Opernbegriffs - oft zu sentimentale, bisweilen seichte Unterhaltung! In der Tat sind die Libretti seiner Opern nicht frei von Kolportageelementen und Ungereimtheiten. Seine Musik wird wegen ihrer ungebrochenen Gefühligkeit nicht selten belächelt, aber zugleich wegen der besonders in den "exotischen" Opern wie "Butterfly" oder "Turandot" enthaltenen orchestralen Farbigkeit auch geschätzt. Ein näherer Blick auf Puccini lohnte sich also allemal.
In Baden-Baden war jetzt, und zwar ganz kompakt, Gelegenheit dazu, als anlässlich der "Winterfestspiele" das Mariinsky-Theater aus St. Petersburg mit einem kleinen Puccini-Zyklus zu Gast war. Zugleich ermöglichte dies einen weiteren Einblick in die Arbeitsweise der führenden russischen Opernbühne, die sich mittlerweile regelmäßig mit ihrem Repertoire in Baden-Baden vorstellt (in den vergangenen Jahren: Tschaikowsky, Prokofjew, Mussorgsky) und im vergangenen Jahr mit Wagners "Ring". Dass "La Bohème" fast auf den Tag genau 110 Jahre nach der Uraufführung nun in Baden-Baden auf die Festspielbühne kam, mag dabei ein Zufall am Rande gewesen sein. Die Puccini-Trias vervollständigten noch "Turandot" und "Madama Butterfly". Alle drei Opern wurden je zweimal gegeben, eine ernorme Anstrengung für die russischen Gäste, für Orchester, Chor und Ensemble der Mariinsky-Bühne, aber auch besonders für Valery Gergiev, der alle Aufführungen (sechs in sieben Tagen) dirigierte.
Dass alle Vorstellungen gut besucht waren, war dem privaten Kulturbetrieb "Festspielhaus" sicherlich eine besondere Freude. Da macht man natürlich auch keine Experimente. Aber mit experimentellem Musiktheater ist die Petersburger Opernbühne ja bisher sowieso nicht gerade hervorgetreten. Gleiches ist von den Aufführungen diesmal auch zu vermelden: Geboten wurden insgesamt solide Produktionen, die allerdings auch ganz offensichtlich kein neues Licht auf Puccini werfen wollten.
Geboten wurde dafür viel Lokalkolorit: japanisches, chinesisches und pariserisches. "Butterfly" und "Boheme" kamen zwar in konventionellen, ästhetisch aber ansprechenden Inszenierungen auf die Bühne, ziemlich tief aus der Mottenkiste aber wurde "Turandot" geholt. Regisseur Charles Roubaud hat unter anderem für die Arenen in Orange und Verona schon "große Oper" gestemmt, für die russische "Turandot" hat er die Szenen ebenso breitwandig arrangiert. Herausgekommen ist statisches Rampentheater, wobei die Figurencharakteristik von der üppigen Ausstattung zusätzlich erschlagen wurde. Die Sänger und noch mehr der Chor lieferten Gesang nach vorne ab, von dramatischem Spiel kann man kaum sprechen. Die Hinrichtungsszene des persischen Prinzen artete in ein vom nichtssagenden Bewegungschor begleitetes, peinlich banales Spektakel aus. Die Szenen mit den drei skurrilen Ministern entbehrten dagegen jeden Witzes. Bei dieser Regie von der Stange bleib aber auch jeder Sinn dieser Oper im Rätselhaften verborgen.
Das dritte Rätsel ist sie selbst:
Turandot (Hintergrund: Irina Gordei),
von Calaf (Fabio Armiliato) enttarnt.
Für die Rolle des Prinzen Calaf stand in dem ansonsten rein russischen Ensemble sogar ein echter Italiener zur Verfügung: Fabio Armiliato, Träger des Benjamino-Gigli-Preises und seit 8 Spielzeiten regelmäßiger Gast an der MET. Seine starke, metallisch glänzende Stimme setzte er kräftig ein, sang aber fast manisch immer direkt ins Publikum, so dass auch kleine Unschönheiten genau zu vernehmen waren: das Anschleifen von Tönen, schmachtende Kiekser und manch brüchiger Spitzenton - Marotten, die im Kampf der Gesänge im Rund einer Arena vor Massenpublikum durchgehen mögen, im Festspielhaus aber hätte man doch kultivierteren Gesang erwartet.
Ebenfalls über internationale Erfahrung verfügt Irina Gordei, die hier die Turandot sang und sich in der heiklen Rolle ganz gut zu schlagen wusste, sieht man von einigen Intonationstrübungen ab. Sehr schön ausgebildet aber ist ihre tiefere Lage. Eine ungeschmälert schöne lyrische Stimme zeigte Olga Kondina in der Rolle der Liu, in der sie allerdings in ein altbackenes Kostüm gezwängt war, was sie optisch sehr unvorteilhaft erscheinen ließ.
Gergievs Dirigat entsprach der Großflächigkeit der Inszenierung. Er setzte weit mehr auf die Ausbreitung eines opulenten Klangteppichs als auf koloristische Feinzeichnung. Zugunsten knalliger Effekte blieb viel von der raffinierten Instrumentierung des späten Puccini im Untergrund des Orchestergrabens. Das übermäßig lärmende Finale von Franco Alfano rundete mit viel Pathos eine Aufführung ab, die in sich durchaus stimmig, nämlich kolossal und kraftmeierisch war, aber keinesfalls zum Nachdenken über dieses befremdende Märchen von der männermordenden chinesischen Prinzessin anregen konnte.
Nicht nur exotisch angehaucht, sondern direkt mit Mitteln des japanischen No-Thetares durchsetzt war Mariusz Trelinskis Inszenierung von "Madama Butterfly" angelegt, die sich durch szenische Ausgewogenheit auszeichnete. Mit sparsamen Requisiten und in fein stilisierten Gesten wurde die Geschichte der Geisha Cio-Cio-San erzählt. Symbole der japanischen Kultur (Dolch, Tempel, Sonne) wurden geschickt aufgenommen und zu eindrucksvollen Stimmungsbildern verwoben. Die schlichte Bühne (im Wesentlichen ein Steg, dann eine Barke und ein paar allerdings etwas zu groß geratene Götterfiguren) ließ den Sängerdarstellern viel Raum für intensives, suggestives Spiel. Versäumt wurde es aber, den Kulturkonflikt als integrales Moment dieser Oper auszustellen. Die Amerikaner waren weder durch Kostüme (allenfalls Kate Pinkerton mit exzentrisch großem Hut im kurzen Auftritt), noch durch Gestik als Kontrast zur japanisch konnotierten Kultur entworfen. Überhaupt blieb das Spiel Akhmed Agadis als Pinkerton und noch mehr Alexander Gergalovs als Konsul blass und nichtssagend. Viel Atmosphäre dagegen schuf die ausgefeilte Lichtregie, die durchaus magische Momente auf die Bühne zauberte, wie das eindrückliche Schlussbild der sich verdunkelnden Sonne beim Harakiritod der unglücklichen Geisha. Traumwandlerisch sicher konnte die Inszenierung in solchen Bildern dem Kitschverdacht durchaus entgehen.
Dem inneren Triebe folgend:
"Butterfly, Butterfly...!"
Auch in sängerischer Hinsicht blieb Akhmed Agadi ziemlich eindimensional, forcierte kräftig und zeigte wenig Differenzierung in der Lautstärke. Natalia Timchenko lieferte als Cio-Cio-San darstellerisch ein zwingendes Rollenportrait, sang die Partie aber mit gewisser Zurückhaltung im Ausdruck. Intensiv dagegen und mit schön timbrierter Stimme gab Liubov Sokolova eine anrührende Suzuki und als grotesker Kuppler Goro bildete Andrei Zorin einen lebendigen Gegenpol zu der insgesamt gemessen ablaufenden Handlung.
Gergievs Orchesterführung erschien in dieser ersten der drei Aufführungsserien wesentlich feinfühliger und flexibler als bei "Turandot". Als habe er sich hier von der pastosen Farbigkeit und der Feingliedrigkeit des Spiels mitziehen lassen, ließ er im Orchester wesentlich deutlicher die subtilen Klangfarben und fein ausgehörte dynamische Abstufungen zur Geltung kommen. Hier wurde nicht geklotzt wie in der plakativen "Turandot", sondern eine breite Palette von Ausdrucksvaleurs stand zur Verfügung und wurde in Klang verwandelt.
Dass feinsinniges und witziges Opernspiel für die Mariinsky-Truppe auch möglich ist, bewies in der dritten Tranche eine fabelhafte "La Bohème", wo Stimmung, Ausdruck und musikalische Qualität sich vollkommen entsprachen.
Zwar war auch diese Inszenierung von interpretatorischer Gedankenschwere kaum angekränkelt, dafür aber hatte Ian Judge (neben vielen anderen Metiers bestens erfahren besonders mit Shakespeare und dem Musical) einen in jeder Einzelheit schlüssigen Ablauf der Handlung inszeniert und die Personen konturscharf und inspiriert geführt.
Das stilisierte Bühnenbild von Tim Goodchild pointierte die Szenerie genau und führte die vier Bilder (bzw. 3 unterschiedlichen Handlungsorte) als prägnante Stimmungsorte vor: das etwas ironisch klischeehafte Atelier der heruntergekommenen Künstler, im 2. Bild das lebenslustige Treiben im Straßencafe des Quartier Latin und im 3. Bild eine stimmungsvolle Szene vor dem Tor ins großbürgerliche Paris.
La Vie de Bohème:
Vier Lebenskünstler und ihr Gläubiger (1. Bild)
Auch die musikalische Seite konnte voll und ganz überzeugen. Gergiev fand für den leichten Parlandostil genau den richtigen Ton, dabei blieb der Orchesterklang zumeist schön transparent und leicht. Ein Gleichgewicht zwischen Flächigkeit und Detailzeichnung wurde gewahrt. Auch die großen Gefühle konnten sich breit entfalten und mit süffigem Klang prägte das Orchester der Aufführung kräftig Puccinis Markenzeichen auf.
Das Liebespaar Mimi (Irina Mataeva mit hinreißend gesungenen Lyrismen) und Rodolfo ( Evgeny Akimov, der über die nötige Italianitá verfügt) zog einen mühelos in Bann und auch die anderen Künstlerfreunde (Andrei Spekhov, Vasily Gerello und Eduard Tsanga als Musiker, Maler und Philosoph) hielten mit darstellerischer und vokaler Präsenz durchaus mit. Einen Glanzpunkt setzte Olga Trifonova als Musette mit ihrem Walzer, wie sie sich lasziv und berechnend den Männern präsentierte. Da war man am Boulevard angekommen, aber souverän war das gemacht.
FAZIT
Größtenteils solides Handwerk aus der St. Petersburger Opernschmiede.