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Rubens und das nichteuklidische Weib

Ein Spiel mit Musik von Péter Esterházy
Deutsch von György Buda
Bühnenfassung von Philipp Stölzl und Jan Dvorak
Musikalische Konzeption von Reinhard Goebel


Auftragswerk der RuhrTriennale

Aufführungsdauer: ca. 2h 45' (eine Pause)

Uraufführung in der Kraftzentrale im Landschaftspark Duisburg-Nord
am 2. September 2006
(rezensierte Aufführung: 12. September 2006)

Logo: RUHRtriennale 2006

Die Mathematik der prallen Ärsche

von Stefan Schmöe / Fotos von Clärchen und Matthias Baus

„Mehr Gicht!“; Wer mit solchen letzten Worten aus dem Künstlerleben scheidet, ist bestenfalls ein mittelmäßiger Toter. Zu Lebzeiten mag Peter Paul Rubens ja zu Recht aller Ruhm zugefallen sein, konstatiert dessen Sohn Albert, aber das Transzendente, das habe der Vater vernachlässigt. Der begnüge sich mit „Ärschen“, allesamt selbst gemalt und nichts davon den Gehilfen überlassen („Nicht einmal dem süßen van Dyck“). Rubens ist in seiner Zeit verwurzelt, dem prallen Leben verbunden, und er kann alles, wirklich alles malen. Das reicht dem Menschen des Barock. Skeptizismus über seine Zeit hinaus ist, allen Katastrophen zum Trotz, seine Sache nicht. Da muss schon der Mathematiker Kurt Gödel (1906 - 1978) als kühler Analytiker der Moderne aufkreuzen, um das Weltbild ins Wanken zu bringen.


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Zufrieden mit seinem Werk: Peter Paul Rubens (Hans-Michael Rehberg), Barockmaler

Um eben jenen Menschen des Barock kreist die diesjährige Ruhrtriennale, und wie kaum ein anderer Autor ist Péter Esterházy prädestiniert, sich diesem Thema zu stellen. Mit seinem monumentalen Roman Harmonia Celestis hat der ungarische Schriftsteller seiner wahrhaft barocken Familie (durchaus sinnbildlich für das „alte Europa“) ein literarisches Denkmal gesetzt und gleichzeitig mit der extrem kurzgliedrigen, bis zum Absurden verspielten Form dem bürgerlichen Roman eine postmoderne Absage erteilt. Rubens und das nichteuklidische Weib, als Auftragswerk für die RuhrTriennale geschrieben, ist voll von Anspielungen auf den Roman, von der Figur des Übervaters angefangen bis zur Sprache, die zwischen dem hohen Ton der schönen Literatur und vulgär-banalen Wendungen abrupt wechselt. Der literarische Spagat zwischen den Epochen ist da glänzend gelungen.


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"Der sterbende Seneca", um 1608/09, Öl auf Holz, 181 x 152 cm, Alte Pinakothek München - hier mit Tenor Philip Langridge als Seneca, links Christoph Bantzer als Schreiber

Die Wissenschaft des Barock ruhte auf dem Fundament der klassischen, von Euklid in dessen Elementen zusammengefassten Geometrie. Die Eleganz und Klarheit dieser Geometrie, die nach wie vor zur Schulausbildung gehört, besticht bis heute. Dabei stellt sie eine Idealisierung dar, die im praktischen Leben oft nicht gegeben ist: Auf gekrümmten Oberflächen, etwa auf der (Erd-)Kugel, ist sie nicht anwendbar. Die Euklidische Geometrie bewegt sich in der Ebene; erst andere, so genannte „nicht-euklidische“ Geometrien beschreiben Figuren auf gewölbten Flächen – ein Schelm, wer in diesem Zusammenhang bei „nichteuklidischen Weibern“ nicht an vollbusige Rubens-Modelle mit, sagen wir's im Tonfall der Hauptfigur: knackigen Ärschen denkt. Das Vexierspiel geht aber viel tiefer: Die Zweifel an der Beweisbarkeit der euklidischen Geometrie führten die Mathematik an der Grenze vom 19. zum 20. Jahrhundert in eine Sinnkrise. Was überhaupt heißt „beweisbar“? Dem Mathematiker Kurt Gödel gelang der Nachweis, dass letztendlich so etwas wie Beweisbarkeit aus prinzipiellen Gründen nicht möglich ist. Wenn Rubens und Gödel über Mathematik diskutieren, prallen Barock und Neuzeit und damit höchst unterschiedliche Weltentwürfe aufeinander. Bei Esterházy (der selbst Mathematik studiert hat) geschieht das mit viel Witz und Raffinesse.

Für die Uraufführung in der Kraftzentrale im Landschaftspark Duisburg-Nord ist das als „Spiel“ bezeichnete Dramolett mit Barockmusik unterlegt. Das ist mehr als eine Folge von Intermezzi, sondern der Rahmen, in dem hier verhandelt wird; die Musik versetzt gleichsam in die fremde Epoche. Nicht die sattsam bekannten Kompositionen Bachs oder Händels, sondern weitgehend unbekannte Meister des Frühbarock, dazu John Dowland und Claudio Monteverdi, werden gespielt – eine musikalische Begegnung mit dem Barockzeitalter, die für vergleichsweise viele Überraschungsmomente sorgt. Der Zuschauer blickt nicht aus der Moderne zurück in das vergangene Zeitalter, sondern nimmt umgekehrt die Perspektive des Barockmalers ein, der ungläubig und zunehmend desillusioniert in die Zukunft schaut.

Grundidee der Inszenierung von Philipp Stölzl ist es, Bilder von Rubens mit lebendigen Darstellern „nachzubauen“ und die Akteure immer wieder aus diesen Bildern heraustreten zu lassen. Dank der außerordentlichen Disziplin aller Beteiligten gelingt dies verblüffend gut, lässt die Bilder und damit die Kunst gleichsam lebendig werden. Auch die Sänger bringen sich mit großem (auch körperlichem) Engagement ein. So beginnt Tenor Philipp Langridge als „sterbender Seneca“ mit Lendenschurz im Bild zu singen. Mit seiner vergleichsweise schweren Stimme verleiht er dem römischen Philosophen außerordentliches Gewicht, hat aber auch die erforderliche Flexibilität für die abrupten Wendungen dieser Musik. Auch Angelica Böttcher, weitgehend spärlich (oder gar nicht) bekleidet, fügt sich mit sauberem, stellenweise etwas neutralem Mezzosopran gut ein: Sie verkörpert sehr überzeugend Rubens' Frau Helene.


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Kleiner Exkurs in nichteuklidischer Geometrie: Auf der gekrümmten Fläche gilt das berühmte Euklidische Parallelenaxiom nicht mehr

Das Ensemble „Musica Antiqua Köln“ (dessen langjähriger Leiter Reinhard Goebel, der noch für die musikalische Konzeption verantwortlich zeichnete, sich während der Probenzeit zu Rubens vom Ensemble trennte) braucht eine Zeit, um zu einem homogenen Klang zu finden. Im ersten Teil sind Cembalo und Theorbe zu dominant, vermischen sich schlecht mit den Streichern, bei denen im von Konzertmeisterin Lisa Maria Landgraf vorgegebenen Furor schon einmal der eine oder andere Ton auf der Strecke bleibt. Erst nach der Pause klingt das Ensemble ausgeglichener und besser aufeinander abgestimmt.

Glänzend agieren die Schauspieler Hans-Michael Rehberg als verschmitzter, ein wenig unnahbarer Rubens, der sich nicht vollständig durchschauen lassen will und dadurch seine Aura behält, und Christoph Bantzer, der den Mathematiker Kurt Gödel mit viel unterschwelliger Ironie als scharf denkenden, dabei lebens- und liebesuntauglichen und recht verklemmten Gelehrten (der nur ungern seine Aktentasche ablegt) anlegt. Torsten Ranft als Sohn Albert bleibt ein wenig oberflächlich, woran Stück und Inszenierung nicht ganz unschuldig sind: Albert ist mehr Stichwortgeber denn handelnder Akteur. Der Rolle gemäß mit viel Witz spielt Matthias Brenner den Bacchus, eine auch körperlich ganz im Sinne Rubens' angelegte Gestalt. Und dass viele Schauspielerinnen und Statistinnen üppig Brust zeigen, versteht sich bei diesem Thema fast von selbst. Ein wahrhaft barockes Spektakel!


FAZIT

Brillante Auseinandersetzung mit der Leitidee des Festivals "Der Mensch des Barock": Eine der stärksten Produktionen der RuhrTriennale.




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Produktionsteam

Regie und Bühne
Philipp Stölzl

Musikalische Leitung
Bendix Dethleffsen

Kostüme
Kathi Maurer

Choreographie
Mara Kurotschka

Licht
Georg Veit

Dramaturgie / Klänge
Jan Dvorak



Musica Antiqua Köln

Statisterie


Solisten

Sänger:

Helene Rubens
Angelica Böttcher, Mezzosopran

Seneca
Philip Langridge, Tenor



Schauspieler:

Peter Paul Rubens
Hans-Michael Rehberg

Albert Rubens
Torsten Ranft

Kurt Gödel /
Schreiber des Seneca
Christoph Bantzer

Bacchus
Matthias Brenner

Diener des Bacchus
Jubril Sulaimon

Bacchantin / Grabengel / Pero
Christiane Reichert

Bacchantin / Grabengel / Nymphe
Heloise Fournier

Bacchantin / Grabengel
Elvira Zuniga

Bacchantin / Grabengel / Pero
Christiane Reichert

Faune
Francesco Pedone
Nicholas Mansfield

Stimme der Medusa
Sigrid Maria Schnückel




Programmheft

Programmheft
(Gestaltung: Karl-Ernst Herrmann)



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