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Wozzeck
Oper von Alban Berg
Text nach dem Dramenfragment "Woyzeck" von Georg Büchner
Neueinrichtung für Soli und kleines Orchester von Eberhard Kloke

In deutscher Sprache

Uraufführung am 18. Juni 2004 in der Konzertgalerie Le Bagno, Rheine
weitere Aufführungen: 19. und 20. Juni 2004 (besuchte Aufführung am 20.6.)

Aufführungsdauer: ca. 1 h 50 ' (keine Pause)


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Regionale 2004
(Homepage)
Wozzeck an der Ems
Ein Expeditionsbericht

Von Stefan Schmöe

Vor der Abfahrt ein kurzer Blick auf die Straßenkarte: Auf die A1 nach Norden. Für Operntouristen ist das Emsland eine terra incognita. Der Stau ist zum Glück auf der Gegenfahrbahn. Münster-Nord abfahren und die B54 Richtung Steinfurt. Rechts und links der Schnellstraße ist das Land hinter Sträuchern und Büschen verborgen: Man bleibt sozusagen von der Landschaft ausgeschlossen. Noch bevor es Zeichen von Besiedlung gibt, weist der Wegweiser zum Bagno, durch einen Wald gelangt man zum Parkplatz. Der Bagno ist eine ausgedehnte Parkanlage, vom Grafen Karl Paul Ernst von Bentheim 1765 angelegt und laut den Internet-Seiten der Kreisstadt Steinfurt eine Art Euro-Disney seiner Zeit. Vom Parkplatz gelangt man zu einem Ensemble aus groß geratenen geschotterten Flächen, Pavillons mit Kaffee- und Pommes-Verkauf und Teichen, auf denen man Tretboot fahren kann. Ein paar hübsche Relikte spätbarocker Architektur sind auch dazwischen, darunter die „Konzertgalerie“. Hier soll heute Wozzeck aufgeführt werden.

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Probenfoto, daher fehlt das Publikum. Ein paar Spaziergänger haben sich trotzdem zwanglos zu Marie gesetzt.

Die „Regionale“ ist ein Programm des Landes NRW, dass die Stadt- und Kreisgrenzen übergreifende Identität von Regionen stärken soll – im Jahr 2004 die Region „rechts und links der Ems“. Solche prestigeträchtigen Projekte fördern mitunter ungeahnte finanzielle Ressourcen zu Tage, die mit kulturellem Nutzen abgebaut werden. (Dass dadurch gleichzeitig anderswo der Grundfinanzierungsspiegel abgesenkt wird, mögen allein Kleingeister einwerfen, ebenso dass im 28 km entfernten Münster gerade ein Wozzeck einstudiert worden ist, was zu gewissen Synergie-Effekten hätte führen können, die man aber im Selbstbewusstsein größtmöglicher Eigenständigkeit zu vermeiden verstanden hat.) Hier im Bagno wird der Wozzeck neu uraufgeführt, denn was Alban Berg nicht mehr vergönnt war, hat der künstlerische Leiter des Projektes, Eberhard Kloke, umgesetzt: Die Oper neu zu instrumentieren, dabei zu entschlacken und für Soli und kleines Orchester zu setzen. Dabei hat Kloke in erster Linie die Füllstimmen gestrichen (den Chor auch), die Partitur ansonsten aber möglichst genau erhalten. Zum tieferen Verständnis gibt es viel bedrucktes Papier, das ich bei einem letzten Kaffe am Ufer des Sees (mit Blick auf die Tretboote) durcharbeite.

Vergrößerung Schnell zu Ende spielen, dann fliegen die Notenständer zum Fenster 'raus: Aufregendes Aktionstheater in spätbarockem Ambiente.

„EntOPERung als Prinzip“ haben Kloke und Regisseur Bruno Klimek als Motto über die Produktion geschrieben. Die Trennung zwischen Publikum und Interpreten aufheben, größtmögliche sinnliche Reflexion ermöglichen, den Raum einbeziehen etc. – irgendwie habe ich das Gefühl, solche Phrasen nicht zum ersten mal zu hören oder lesen, aber sei's drum. Der Regisseur schwört das zahlenmäßig kleine Publikum – mehr als 150 Zuschauer passen nicht in die Konzertgalerie, wenn dort auch noch 37 Musiker spielen sollen – erfrischend kurz auf die Aufführung ein. Dann dürfen wir durch eine Art Gangway vom schmucken 90er-Jahre-Foyer in die Konzertgalerie schreiten. Stühle gibt es dort nicht, dafür aber im Raum verteilt mehrere Quader mit Ausmaßen von vielleicht 3 x 3 Meter, bestehend aus grauen Filzdecken oder ähnlichem Stoff (sind es die scheußlichen grauen Wolldecken aus Bundeswehr- oder Jugendherbergs-Restbeständen?) – abgesehen vom Zellophanüberzug hätte Altmeister Beuys seine Freude am Material gehabt. Da es auch keine Bühne gibt, ist es eigentlich egal, in welche Richtung man schaut. Bequem zurücklehnen kann man sich nicht, soll man sich auch nicht, denn Kunst hat unbequem zu sein. Altmeister Beuys hätte wohl zustimmend genickt.

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Um sich den Wozzeck vollständig zu erschließen, muss man in den Wald laufen, denn ein paar Minuten der Oper werden dort gespielt. Sie merken: Hier wird die Kluft zwischen Publikum und Interpreten aufs Schönste aufgehoben.

Die weniger opernerfahrenen Zuschauer mögen überrascht sein, als plötzlich jemand aufsteht und zu singen beginnt: Der Hauptmann. Einer von uns. Wozzeck geht uns alle an. Der Hauptmann stütz sich auf meiner Schulter auf und springt auf das Podest, auf dem ich sitze. Ob Christian Hees eine gute Besetzung ist? Kaum zu beurteilen, wenn er mir quasi ins Ohr singt (und das nicht eben leise). Das ensemble musikakzente 21 und die Mitglieder des Kairos Quartett werden von Dirigent Eberhard Kloke immer wieder motiviert, auch das Letzte aus ihren Instrumenten herauszuholen, und das sprengt die akustischen Kapazitäten des Saales bei Weitem. Das mag kammermusikalisch gedacht sein, ist aber, wenn man quasi im Orchester sitzt, kaum noch aufzulösen. Schnell bestätigt sich meine spontan aufgeworfene These, dass die Trennung von Publikum und Interpret im klassischen Opernhaus eine aus akustischen Gründen geniale Idee ist. Hier in der Konzertgalerie des Bagno ist eigentlich alles zu laut. Kay Stiefermann (Wozzeck), Christian Specht (Tambourmajor), Annette Robbert (Marie) und alle anderen Sänger mögen ja Großes leisten, aber der Klang mischt sich nicht. Da mag man das eine oder andere, was sonst im Gesamtklang untergeht, zum ersten Mal richtig hören – aber man hört es nicht im musikalischen Kontext, sondern isoliert.

„Das Thema Wozzeck ist HEUTE deshalb so aktuell wie zu jeder Zeit.“ äußert Kloke im Programmheft. Zweifelsohne ist er nicht der einzige, der das so sieht, sonst würde die Oper nicht ringsumher in jedem zweiten Theater gespielt. Die Sänger laufen um uns herum, schauen in die Spiegel, Wozzeck wird verhauen – aber das bleibt sehr, sehr unverbindlich. Auf der anderen Seite soll die Art der Beleuchtung offenbar die Tageszeit der momentanen Handlung andeuten, als ob es darauf ankäme. Zugegeben, man kann sich der Inszenierung nicht entziehen, weil man gut aufpassen muss, nicht versehentlich von einem Darsteller getreten zu werden. Aber erschöpft sich der Wozzeck in dieser Form der Anteilnahme ?

Vergrößerung Aber was heißt schn "drinnen" und "draußen", wenn man einfach die Türen öffnen kann?

Derweil sammeln sich draußen vor den Fenstern Radler, die beim Sonntagsausflug auf das Spektakel aufmerksam werden. Und die Fotografen, begierig auf die Reaktionen des Publikums. Zwischendurch werden immer mal wieder die Türen zur Gartenseite geöffnet, Notenständer hinausgeworfen oder die Akteure gehen hier hinaus, dort wieder hinein. Die Fotografen knipsen eifrig. Als Publikum ist man hier nicht mehr nur Betrachter, sondern Teil eines Gesamtkunstwerks. EntOPERung? Wenn Oper an sich artifiziell ist – dies hier ist eine ungeahnte Steigerung. Hier ist alles Kunst. Altmeister Beuys … (aber das hatten wir schon). Höhepunkt der absurden Veranstaltung: Die „Predigt“ des Handwerksburschen (2.Akt, 4. Szene) findet draußen statt. Wir erheben uns, gehen etwa hundert Meter durch den Park, wo in einem Waldstück eine kleine Bühne aufgebaut ist. Zum Glück regnet es nicht (aber Regenschirme standen für alle Fälle bereit). Vielleicht drei Minuten Musik, dann geht es wieder zurück. Am Wegesrand stehen Hinweisschilder für Parkbesucher ohne Opernticket: „Vorsicht Aufführung. Gefahrenbereich“. Treffender kann man es eigentlich nicht sagen.

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Um das richtige Aufführungsfeeling zu bekommen, müssen Sie sich die Podeste vollbesetzt mit begeisterten Zuschauern vorstellen, die sich der ungeheuer dichten Atmosphäre dieser Aufführung nicht entziehen können (wenigstens die meisten).

„Ach, ich habe noch nie eine so dichte Aufführung erlebt“ schwärmt eine Besucherin den neugierigen Fahrradfahrern am Ausgang vor. Leider war's die letzte von drei Aufführungen, die durchaus theaterinteressierten Freizeitradler gehörten also definitiv nicht zu den 450 Auserwählten, die diesem Event beiwohnen durften. Ob's die Region gestärkt hat? Während ich auf der Rückfahrt das Ruhrgebiet durchquere, freue ich mich auf die nächste Wozzeck-Aufführung. In Essen. In einem ganz normalen Opernhaus. Nicht entOPERt. Hoffentlich aber mit mehr Konzentration auf das, was mich daran interessiert: Alban Bergs Oper selbst.


FAZIT
Wer noch immer Opernhäuser niederbrennen mag oder den Event an sich sucht, hat vermutlich seine Freude an dieser entOPERten Aufführung gehabt. Mir kam's eher wie ein Revival von gesamtkunstwerklerischem Gedankengut der 70er- und 80er-Jahre vor.


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Produktionsteam


Musikalische Leitung
Eberhard Kloke

Inszenierung
Bruno Klimek

Kostüme
Frank Bloching

Regieassistenz und Video
Astrid Menze


ensemble musikakzente 21

Mitglieder des Kairos Quartetts


Solisten

Wozzeck
Kay Stiefermann

Tambourmajor
Christian Specht

Andres
Friedrich von Mansberg

Hauptmann
Christian Hees

Doktor
Renatus Meszar

Marie / Narr
Annette Robbert

1. Handwerksbursch
Patrick Schramm

2. Handwerksbursch
Ansgar Eimann

Margret
Ulrike Ludewig

Maries Knabe
Lukas Saalfrank



Weitere
Informationen

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