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Musikfestspiele
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Wratislavia Cantans Logo

Breslau auf musikalischen Pfaden

Wratislavia Cantans 2002

6.-16.9.2002


Bericht über die Festivaltage vom 11.-14.9.


Von Meike Nordmeyer


In einer Stadt, in der man auf einem kleinen feinen Markt mittem im Zentrum die ganze Nacht hindurch kunstvoll kreierte Blumensträuße kaufen kann, werden wohl auch noch andere schöne außergewöhnliche Dinge geschehen - so zum Beispiel ein großes Festival für Kantaten- und Oratorienmusik, das jedes Jahr im Herbst stattfindet. Mit seinem Namen Wratislavia Cantans beruft sich dieses Festival auf den lateinischen Namen der Ortschaft. Heute heißt die belebte polnische Stadt mit den vielen großen Kirchen und den frisch renovierten prachtvollen alten Bürgerhäusern Wroclaw. Und auch den Namen Breslau sieht man gerne wieder als deutschsprachigen Zweitnamen an.


Foto: Platz mit Blumen in Breslau Rund um die Uhr Blumen und prachtvolle Bürgerhäuser im Zentrum von Breslau. / Foto: M.N.

Zum 37. Mal fand in diesem Jahr das Internationale Festival Wratislavia Cantans statt. Weit in die kommunistische Zeit von Wroclaw reicht also die Geschichte dieser Musiktage zurück. Es mutet schon erstaunlich an, dass unter der Herrschaft des Staatssozialismus gerade ein Festival mit einem besondereren Schwerpunkt auf geistlicher Musik entstehen konnte; einer Musik, deren Pflege sonst gezielt zurückgedrängt werden sollte. Erstmalig im sozialistischen Polen fanden damit in Breslau auch wieder Konzerte in Kirchen statt - das war nun wirklich vollkommen unüblich im Ostblock. Möglich gemacht hatte diese erstaunlichen Neuerungen im Jahr 1966 Andrzej Markowski, der höchst angesehene und daher einflußreiche Direktor der Breslauer Philharmonie, der das Festival gründete und in den folgenden elf Jahren als Direktor beförderte. Mit dem Direktor Tadeusz Strugala, der 1977 antrat, wurde das Programm entscheidend erweitert auf zusätzliche Vokalformen, wie vor allem Recitals und schließlich auch Aufführungen von Oper, Theater und Tanz, sowie Kunstausstellungen.



Foto: Rathausplatz in Breslau

Man trifft sich auf dem Rynek, dem eleganten Rathausplatz im Herzen von Breslau. Von hier aus erreicht man bequem zu Fuß die verschiedenen Veranstaltungsorte der Breslauer Konzerte. / Foto: M.N.

Ein interessantes Beiprogramm mit Tanz, Theater und bildender Kunst ist auch heute noch präsent, doch legt man nun wieder den Schwerpunkt auf die Musik, wie Agnieszka Jedrusyna vom Festivalbüro ausdrücklich erklärt. Seit einigen Jahren wird das Programm dabei jeweils von einem bestimten Motto geprägt. Außerdem entwickelt sich die Ausweitung des Festivals auf ganz Niederschlesien. In 14 Städten in der Umgebung Breslaus gibt es inzwischen zusätzlich Konzerte.
Längst ist Wratislavia Cantans zu einem internationalen Festival geworden, das über Polen und Osteuropa weit hinaus bekannt ist. Die ausführenden Künstler kommen aus verschiedenen europäischen Ländern und aus Übersee, zahlreiche Besucher reisen aus dem Ausland, vor allem aus Frankreich und Deutschland an. Besonders stolz darauf ist man, dass das Festival unter der jetzigen Leiterin Lidia Geringer d' Oedenberg das erste in Polen ist, das der European Festival Association angehört.


Das Programm im Jahr 2002 präsentierte sich als eine auffallend weitgefächerte Zusammenstellung. Da gab es viel Barockmusik, alte russisch orthodoxe Kirchenmusik, Lieder der spanischen Juden, Gospels, symphonische Musik des 19. Jahrhundert, sowie moderne bis zeitgenössische Kunstmusik wie zum Beispiel Brittens War Requiem und die Missa pro pace des für seine Filmmusik berühmten polnischen Komponisten Wojciech Kilar. Die breite Programmauswahl hat den Vorteil, dass sicher für jeden Geschmack etwas dabei ist, die verschiedensten Vorlieben werden bedient. Aber der Besucher ist auch stark auf sich selbst angewiesen, sich zu orientieren in der Fülle des Programms, nochzumal sich die Konzerte am Tag allzu häufig knapp überschneiden, was den bequemen Besuch nacheinander unmöglich macht.
Das diesjährige Motto konnte zur besonderen Profilierung der Programmgestaltung wenig beitragen, da es allzu elastisch angelegt war. "Eros - Thanatos", also "Liebe und Tod" - unter dem Motto lässt sich einfach schlechterdings der Großteil der gesamten Musikgeschichte behandeln, und zum Beispiel nahezu jede beliebige Oper. Freilich bietet es sich bei dem Thema an, gleich mehrere Requien zu spielen, das legt ein Festival zur Oratorienmusik aber sowieso nahe.


Foto: Konzert in der Kathedrale Festliches Konzert in der Kathedrale der Heiligen Maria Magdalena.
Foto: Adam Hawatej

Da gliederte eher die unterschiedliche Aufmachung der Termine die Veranstaltungstage. Groß angekündigt und an exponierter Stelle im Programm gab es die nahezu täglich stattfindenden festlichen Konzerte in der Kathedrale der Heiligen Maria Magdalena. Zur Hauptkonzertzeit strömte stets eine große Besucherzahl zur Aufführung der großen Oratorien.

Einen ganz besonderen Anlass für ein solches Konzert in der Kathedrale bot der erste Jahrestag des 11. Septembers, der in die Zeit des Festivals fiel. Zum Gedenken an die schrecklichen Terroranschläge in New York und Washington wurde die Messa da Requiem von Giuseppe Verdi aufgeführt. Es musizierten die Philharmonie Breslaus mit dem Niederschlesischen Opernchor unter der Leitung des amerikanischen Dirigenten Leon Botstein. Trotz des sehr bewegenden Hintergrund des Konzertes, der wohl niemanden an diesem Tag unberührt ließ, konnte die musikalische Aufführung von sich her nicht besonders beeindrucken. Die Stimmen der Solisten kamen im starken Hall des Kirchenraumes nicht vorteilhaft zum Tragen. Der Dirigent hätte die insgesamt beachtliche Leistung von Solisten, Choristen und Instrumentalisten stärker zusammenführen und austarieren müssen. Vorherrschend blieben die eher unvermittelten Übergänge.
Besonders bei diesem Konzert fielen die großen Nachteile der Kathedrale als Konzertsaal auf. Zur ungünstigen Akustik drang wiederholt Straßenlärm herein und störte die Piano-Stellen erheblich. Angesichts der Vielzahl der großen Kirchenräume in Breslau sollte vielleicht über eine alternative Platzierung dieser Konzerte nachgedacht werden.

Bewegender gelang hingegen die Aufführung der Missa pro pace von Wojciech Kilar in der Kathedrale. Der Hall machte sich hier weniger beeinträchtigend, vielleicht ja sogar unterstützend bemerkbar bei den eindringlichen Repetitionen des Friedensgesanges, die von den Solisten und dem Niederschlesischen Opernchor anspruchsvoll intoniert wurden. Das Dirigat von Marek Pijarowski erreichte einen ausgewogenen Zusammenklang. Das Orchester - wiederum die Breslauer Philharmonie - breitete einen stets dichten Klangteppich aus. Die Friedensmesse beeindruckt auf ihre eigene Art durchaus, auch wenn der Zuhörer sich mitunter doch nach wenigstens einem Hauch von Kontrapunktik sehnen mag.

Besonders zu feiern gibt es in diesem Jahr in Breslau das 300jährige Bestehen der Universität. Das ehrwürdige Jubiläum prägte natürlich auch das Festival. Eingeladen wurden aus diesem Anlass verschiedene Unichöre, und zur Aufführung gelangten außerdem Werke von Johannes Brahms, der einst die Ehrendoktorwürde in Breslau erhielt. Im November werden noch weitere Konzerte folgen. Die Universität bereichert ohnehin das Festival stets im besonderen Maße, bietet sie doch in ihrem großen Barockbau mit der Aula Leopoldina und dem Oratorium Marianum zwei außerordentliche festliche alte Konzertsäle von ausgezeichneter Akustik.

Zu erleben waren in diesen beiden Unisälen beispielsweise an einem Abend zwei Konzerte von ganz unterschiedlicher Qualität. Da war zunächst der Soloabend des italienischen Kountertenors Angelo Manzotti in der prächtigen Aula. Zahlreiche VIP-Plätze waren reserviert für die Honoratoren der Stadt und der Universität. Das Konzert galt als Hauptprogrammpunkt und wurde auch entsprechend begeistert aufgenommen. Der Qualität des Dargebotenen entsprach diese Emphase leider nicht. Dass Manzotti im historisierenden Kostüm auftritt und seinen Gesang mit ebensolchen pathetischen Gesten unterstreicht, ist recht gewöhnungsbedürftig. Hier könnte man aber dem Solisten noch zugute halten, dass diese Art des Auftritts persönliche Stilfrage ist. Dass Manzotti bei aller Theatralik dann nachlässige Stimmführung und undeutliche Diktion des italienischen Textes bietet und sich dafür feiern lässt, ist hingegen frappierend. Die drei Instrumentalisten an Flöte, Cello und Cembalo begleiteten den Kountertenor wenig ausgewogen, der Flötist erwies dabei kaum Konzertreife.

Da konnte man getrost vorzeitig herauseilen aus der Aufführung, um das Konzert im ebenso festlichen Barocksaal Oratorium Marianum pünktlich aufzusuchen. Der Kontrast hätte größer nicht sein können, denn belohnt wurde man für den schnellen Wechsel mit einem besonderem Juwel an Konzertkunst: Der Berliner RIAS-Kammerchor bot unter der Leitung von David Hill Liedgesang von Brahms, Webern und Reger in reinster Intonation und inniger, konzentrierter musikalischer Ausgestaltung. Unterstützt durch die ebenfalls herausragende Akustik des Raumes gelang ein berückendes Konzert von ausgezeichneter Qualität, das leider längst nicht so gut besucht war wie das vorangegangene. Das Brahmslied "Wenn so lind dein Auge" erklang als Zugabe, die sich das Publikum zu Recht erklatschte, denn wenn so lind eure Stimmen, dann kann man davon gar nicht genug kriegen.

Die besonderen Perlen des Festivals sind also mitunter gerade am Rande zu finden, während die groß angekündigten, zentralen Konzerte nicht immer das einhalten, was sie versprechen. So gab es zum Beispiel ein sicher weniger beachtetes Konzert der Teilnehmer des Kurses für Oratorien- und Kantateninterpretation, der jedes Jahr das Festival begleitet. Die frisch renovierte Evangelisch-Augsburgische Kirche Breslaus bot dafür einen hellen, ansprechenden Raum mit guter Akustik. Das Breslauer Kammerorchester Leopoldinum musizierte unter der aufmerksamen Leitung von Stefan Bevier mit glänzendem Klang. Zum fein federnden Spiel der Streicher gestaltete die Oboe ihre Stimme sehr sensibel. Die jungen Gesangsstudentinnen und -studenten ließen aufhorchen mit ihrer gehaltvollen Darbietung der Kantaten von Johann Sebastian Bach. Da fiel gleich zu Beginn die Sopranistin Marzena Czekala auf mit souveräner, freudig vorgetragener Stimmführung. Eine vitales Konzert konnte mit den jungen Musikern gelingen.

Foto: Konzert in der Synagoge Bewegendes Konzert in der baufälligen Synagoge.
Foto: Jochen Viehoff

Eine weitere Perle bildete zweifellos ein Konzert mit russisch orthodoxer Kirchenmusik, das ebenso wie andere Konzerte mehrmals aufgeführt wurde und dennoch am späten Abend in der Orthodoxen Kirche in Breslau wieder restlos ausverkauft war. Die hochmotivierten Sänger des auffallend jung besetzten St. Petersburger Kammerchor begeisterten mit ihrem dichtem, intonationsreinen a capella Gesang.
Ein besonderes Ereignis, zu dem großer Andrang herrschte, war auch das Konzert mit den sefardischen Romanzen, den Gesängen der spanischen Juden. Sie erklangen in der großen Synagoge von Breslau, die nach langer Zeit des Brachliegens und Verwitterns nun restauriert wird, und sich derzeit im Innenraum wie ein Rohbau präsentiert. Das Ensemble Accentus Austria bot fein musizierten Vortrag, zusammen mit der besonderen Raumgegebenheit entstand eine enorm eindrucksvolle Atmosphäre.


Wratislavia Cantans bot im Jahr 2002 ein interessantes, vielseitiges Programm, das wohl noch stärker hätte profiliert werden können, aber auf jeden Fall ein reichhaltiges Angebot für den Festivalbesucher eröffnete. Die Breslauer Konzerte sind stets verteilt über die ganze Stadt mit ihren vielen schönen Veranstaltungsorten. Indem man diese Orte mit dem Stadtplan in der Hand aufsucht, lernt man die Stadt auf musikalischen Pfaden kennen - diese Stadt, die für das Festival einen lebendigen, teilweise auffallend eleganten, dabei stets aufgeschlossen freundlichen Rahmen bietet. Es ist ein Ort, an dem sich der Besucher wohlfühlt. Nach den Konzerten geht man zum Rynek, denn an dem schönen Rathausplatz ist immer noch was los.
Wratislavia Cantans - ein Festival, das sich lohnt kennenzulernen, und ein Festival, das sicher die schönste Gelegenheit bietet, Breslau kennenzulernen.



Weitere Informationen zum Festival
auf Polnisch und Englisch:
www.wratislavia.art.pl

Informationen zu Breslau
auch auf Deutsch:
www.wroclaw.com



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