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Musikfestspiele
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Freitag, 04.05.2001 bis Sonntag, 06.05.2001, Witten

Wittener Tage für neue Kammermusik




Zum Glück nicht nur Liegetöne

Das Wittener Festival bleibt sich auch 2001 treu

Von Gordon Kampe/Sebastian Hanusa

Kampe: Immer diese Liegetöne in der Neuen Musik. In der Tat, die klingen immer gut, zumal sie so wunderbar farbig instrumentiert sind, wie in Vassenas Stück "5 nodi grotteschi & crudeli". Aber, kann man da nicht mehr machen? Ein großartiges Ensemble - das Collegium Novum Zürich - und ein fabelhafter Akkordeonist - Teodore Anzelotti - erscheinen doch arg unterfordert. Nein, das Stück tut nicht weh, man hört es, dann ist es vorbei. Vassena hofft, dass der Hörer Genuss haben wird. Nun ja, etwa so wie Sahne pur, davon wird man auch nicht satt.

Hanusa: Wenn man unter Genuss genug Zeit versteht, die Gedanken schweifen zu lassen, ohne durch laute oder aufdringliche Musik belästigt zu werden, war Vassenas Stück selbiger in seiner reinsten Form. Ein Hörerinteresse wird höchstens geweckt, wenn man "5 nodi grotteschi & crudeli" als eine Art Klangfarben- oder Instrumenations-Etude hört; hier finden sich farbige Kombinationen, die in einem allmählichen, sehr gut ausgehörten Wandlungsprozess verarbeitet werden.

Kampe: Marco Stroppa schreibt Neue Musik. Und er schreibt Liegetöne. Das Stück "Cantilena" gibt dem großartigen WDR Chor die Gelegenheit, unglaublich viele Schattierungen dieser häufig stehenden Klänge zu zeigen. Durch die meisterhafte Behandlung des Chores, fast möchte man sagen: durch die Instrumentierung des Chores, schafft Stroppa ein ätherisches Klangbild, man wird nicht selten an Ligetis "Lux aeterna" erinnert. Dieses Klangbild wird unterstützt durch den formbildenden Einsatz der Cymbales antiques, die im Chor verteilt erklingen.

Hanusa: Man kann die formbildende Funktion der Cymbales antiques aber auch völlig übersehen - dann handelt es sich nur um unmotiviertes Geklingel in einem ansonsten relativ amorphen Klangstrom. Sicher, auch hier steht gerade die Klanglichkeit im Vordergrund. Nachdem aber bei Vassena die Klangfarben durch ein heterogen besetztes Instrumental-Ensemble relativ stark wandelbar waren, bewegt sich Stroppa ausschließlich im Chorklang. Um diesen aber zur Geltung zu bringen fehlt ein wenig formale Stringenz - der Klang wächst nicht über sich selber hinaus.

Kampe: Neben Liegtönen können in Johannes Maria Stauds kurzem Werk: "der kleinste abstand zwischen zwei gegenständen", auch mal ein paar Geräusche auftauchen. Die Vorlage für dieses Werk entstammt aus 32 Bildtafeln Heinz Gappmeyers, die sich mit der Suche nach Begriffen wie Raum und Zeit beschäftigen. Eine spannende Idee, doch das Stück hätte länger gebraucht. Die Kürze erscheint eher Unfertig, denn Präzise auf den Punkt gebracht. Warum wird der Chor so unterfordert?

Mischa Käser schreibt keine Liegetöne. Er komponiert wahrhaftig einen fliegenden Flickenteppich: Das Stück macht, besonders im ersten Teil, einfach Spaß zu hören und zu sehen. Mischa Käser, der selbst als "Stimme" enorm virtuos mit allerlei Zusatz-Instrumenten hantieren muss, schafft es, den Musikern Musizierfreude zu entlocken. Sicherlich mag dem Stück der sonst bei Neuer Musik so häufige "Tiefgang" fehlen, doch ist Käsers Flicken-Musik sehr interessant und beim ersten Hören sicher nicht ganz zu erfassen. Man hat sogar Lust, es ein zweites Mal zu hören!

Hanusa: Nein, Mischa Käser schreibt keine Liegetöne und es macht sehr viel Spaß ihm zuzuhören. Doch wenn man unter anderem unter "Tiefgang" eine schlüssige Bezugnahme zwischen Mikrostruktur und formaler Konzeption versteht, so hat Käsers Stück in einer Beziehung sogar mehr Tiefgang als die anderen Stücke des Abends. Es geht eben nicht nur formal auf, vielmehr erscheinen die Proportionen bewusst übersteuert, hinterlässt das Stück eine leichte Verunsicherung über eine nicht wieder aufgehobene formale Schieflage. Auch auf diesem Weg wird Interesse auf ein nochmaliges Hören geweckt. Nicht unerwähnt bleiben sollte die hervorragende Sopranistin Sylvia Nopper, die neben Käsers Stimmakrobaterieen mit einer sehr sicher geführten, individuell timbrierten Stimme auch innerhalb des gut besetzten Festivals auffiel.

Kampe: Seit mittlerweile 21 Jahren beschäftigt sich Hans Zender nun mit der Kombination von Hölderlin, Streichquartett und Stimme. Zender schwebt eine "Verzeitlichung" der Hölderlinschen Texte vor, wobei die Worte Tönen gegenüberstehen sollen. Denn es handelt sich nicht um "handelsübliche" Vertonungen von Lyrik, vielmehr um mittlerweile vier melodramatische Performances. Textverständlichkeit ist für dieses Vorhaben unabdingbar, weshalb auch so gut wie nie ein gesungenes Wort vorkommt: Da wird proklamiert, gewispert, gesprochen, erzählt und gepöbelt. Das Konzert bot die Möglichkeit zu beobachten, wie sich die Annäherung Zenders an Hölderlin, in den letzten zehn Jahren verändert hat.

Mit "denn wiederkommen" - Hölderlin lesen III, stand zunächst ein Werk aus dem Jahr 1991 auf dem Programm. Darin werden Verse aus Hölderlins Patmos-Hymne benutzt und Zeile für Zeile musikalischen Formabschnitten zugeordnet. Zender belässt die Reihenfolge der Zeilen nicht in der überlieferten, sondern zerlegt sie und ordnet sie neu. Dabei wird der Hölderlinsche Duktus weniger verlassen, als vielmehr durch Zender neu interpretiert. Das klingt alles sehr verheißungsvoll und sehr gespannt will man das Stück hören, doch die Musik kommt weniger eindrucksvoll daher, als es die bedeutungsschwangere Idee vermuten lässt. Zu Ohren kommen einem zahllose Neue-Musik Floskeln, die in unzähligen Streichquartetten schon längst gehört wurden. Die Musik ist, ein echter Zender eben, durchgehend perfekt gemacht: wunderschöne kurze Gesten erscheinen, verschwinden und kehren abermals verwandelt wieder. Wenn da nicht die ständig lamentierende Stimme wäre... Mahlerscher Pathos mit anderen Mitteln.

Diese Mittel werden in "Mnemosyne" - Hölderlin lesen IV nur noch weiter überhöht. Das Auftragswerk des WDR erklang als Uraufführung: Die musikalische Sprache scheint sich kaum geändert zu haben. Vielleicht ist es noch geschickter konstruiert, der Text noch schwieriger, nicht umsonst ist das Stück ja auch doppelt so lang. Doch entscheidend ist, was zu den Ohren hineinkommt: Nach einer Minute kann man ahnen, wie es weiter geht - genau so. Lamento von der Stimme, Lamento vom Quartett. Diesmal kommen allerdings noch Textprojektionen hinzu, damit man den Text, der fast immer einfach mitläuft, auch ganz bestimmt versteht. An besonders wichtiger Stelle wird Hölderlins Handschrift gezeigt und langsam auf das Wort "Musik" gezoomt - nun auch noch visueller Pathos.

Insgesamt sind die Stücke trotzdem gut gemacht, vielfältigste Einfälle überraschen und wollen mehr und länger gehört werden. Doch die ständige, beinahe didaktisch lehrmeisterhafte, Lamento-Schmerz-Aura kann ermüden.

Die Interpreten, allen voran die großartige Salome Kammer, waren in respektabler Form, wobei die Ardittis auch schon engagierter zu hören waren. Es bleibt zu hoffen, dass ein Hölderlin lesen V, vermutlich ohnehin unumgänglich, mehrdimensionaler erscheinen wird!

Schon die Interpreten des Konzerts am Samstag Nachmittag lassen aufhorchen: In einem Programm drei fabelhafte Ensembles nacheinander, das verspricht höchstes Niveau. Spannung lassen auch die immer bekannter werdenden jungen Komponisten Christoph Neidhöfer und Mark André aufkommen.

Doch schon nach dem ersten Stück herrscht Ratlosigkeit: Wen Deqing, ein 1958 in Südchina geborener und mehrfach international ausgezeichneter Komponist, kommt mit einer "hübschen", etwas exotischen Fuge für Flöte und Streichquartett daher. Offensichtlich handelt es sich bei diesem Stück nicht um ein Werk, was wegen nachromantisch tonaler Episoden der "Neuen Einfachheit" zugeordnet werden könnte, vielmehr handelt es sich um "Neuen Quatsch." Die komplette Musik nach 1950 scheint vollkommen unreflektiert zu sein: ein niedliches quasi Bambus-Flötenwispern macht noch keine Neue Musik. Und warum gerade eines der besten Streichquartette der Welt dieses Stück spielen muss, bleibt fraglich.

Wenngleich auch ein ganz anderes Stück als Notenbeispiel im Programmheft abgedruckt ist, so handelte es sich bei Christoph Neidhöfers Stück "quasi solo - sich selbst betrachtend" trotzdem um ein Quartett für Stimme, Bassetthorn, Schlagzeug und Cello. Eine sehr interessante Besetzung, die abermals die Erwartung anregt. Nach etwa 10 Minuten ist das Stück dann vorbei und man weiß nicht vielmehr als vorher. Sich selbst betrachtend - das kann kein spannender Anblick gewesen sein. Die Besetzung, gerade mit einem nicht häufig benutzten und so herrlichen Instrument wie dem Bassetthorn, verlangt nach mehr Profil, nach einem Faustschlag: So das bin ich und das ist meine Musik! Doch, alles bleibt blass.

Gar nicht blass und mit weitem Abstand das Ehrlichste Stück, ein Trio für Klavier, Bassklarinette und Cello: Mark Andrés "ALS", inspiriert durch die Offenbarung des Johannes, ein Versuch, der Architektur von Stille nachzuspüren. Die Mitglieder des Ensemble Modern, Wolfgang Styi, Michael Kasper und Ueli Wiget, spürten dieser Stille mit ungeheurer Konzentration nach und schufen so eine dichte Atmosphäre in einem brüchigem Werk. Durch die absolute Kontrastlosigkeit des Stückes, es besteht fast ausschließlich aus Geräuschverläufen und pulsierendem Atem, musste das Stück polarisierend wirken. Doch eben das war sehr entspannend, so vermochte nur André die Gemüter zu rühren. Zu seiner Idee, immerhin hatte man für 22 Minuten den Atem anzuhalten, konnte man stehen wie man will, doch er exerzierte seine Struktur kompromisslos durch und dieses musikalische Rückgrat ist bewundernswert!

Hanusa: Der alljährliche "Mini-Schwerpunkt" des Wittener Festivals war dem "abseitigen" Morton Feldman gewidmet. Im begleitenden Filmprogramm liefen vier Filme, zu denen Feldman die Musik gemacht hatte, im Konzert am Samstag-Abend erklangen zehn kurze Stücke, darunter nochmals die beiden Malerportrait-Filme, die Feldman zusammen mit Hans Namuth gemacht hatte - der Film über Jackson Pollock entstand 1950/51, das Portrait Willem de Koonings, ebenfalls in Zusammenarbeit mit Hans Namuth 1966 - diesmal aber mit der live vom ensemble recherche gespielten Musik. Zudem einige kürzere Kompositionen, wie die Vertonungen von drei, bzw. vier Gedichten E. E. Cummings für Sopran und kleinere Besetzungen - in diesen frühen Stücken war der Einfluss Weberns deutlich zu hören - das Stück "Extensions V" für zwei Violoncelli oder das Ensemble-Stück "For Franz Kline" für Horn, Röhrenglocken, Klavier, Sopran, Violine und Violoncello.

Während die genannten Stücke alle noch sehr "feldmanisch" waren, besonders die Musiken zu den Maler-Portraits mit ihrer Korrelation zwischen dem filmischen Blick auf die Bilder, Ateliers, den Schaffensprozess der beiden Maler und der hier nicht nur grundierenden Musik faszinierten, erklangen nach der Pause eher Stücke der Kategorie "Kurioses und Vermischtes". Die liebreizende Filmmusik "Something wild in the City: Mary Ann´s theme" für Celesta, Streichquartett und Horn - Feldmans einzige Arbeit für einen Hollywood-Streifen - wurde vom Regisseur abgelehnt, da dieser die schwebenden E-Dur-Klänge als ungeeignet für die Vergewaltigungsszene befand, mit der sein Großstadt-Thriller beginnen sollte. Zudem erklang das Violin-Solo "For Aaron Copland", ein Präsent zu dessen Geburtstag, eine selbstironische, vor Banalität berstende Trivialität. Die Kuriositäten-Ecke vervollständigend erklangen zum Schluss zwei nicht weiter verwendete Filmmusik-Fragmente.

Alles in allem war der Abend, der immerhin fünf Uraufführungen aufzuweisen hatte und von Hanns Zischler unterhaltsam moderiert wurde, ein entspannender Abschluss des zweiten Festival-Tages.

Eines der besten Stücke des Festivals war für mich Brian Ferneyhoughs "Flurries" für Pikkoloflöte, Klarinette, Horn, Klavier, Violine und Violoncello, welches im Matinee-Konzert am Sonntag Morgen vom Freiburger ensemble recherche gespielt wurde. Ferneyhoughs hyperkomplexen Verschränkungsstrukturen verschiedener Rhythmus- und Formmodellen, sein avanciert-kompromissloser Gestus wirkten weder aufgesetzt, noch verloren sie sich in Selbstzweck. Jedes Moment dieser aufgesplitterten, hochkonzentrierten Textur fügte sich nahtlos in den musikalischen Kontext. Bemerkenswert die Übergänge im ersten Teil des Stückes: Zuerst treten klar getrennt die Instrumente in drei Duos nacheinander auf, ehe sich die Instrumentation zum Sextett verdichtet. In dieser Folge von Duos wurde durch strukturelle und klangfarbliche Verknüpfung jeglicher Schematismus umgangen, den Übergängen war, wie dem gesamten Stück, eine faszinierende Selbstverständlichkeit der Mittel innerhalb eines Gestus komplexesten Aufbegehrens eigen.

Das sich anschließende "Ground Manual" des Australiers Thomas Meadowcroft konnte bezüglich kompositorischer Konzentration nicht an Ferneyhough heranreichen, beschränkte sich formal auf die Variation einer in ihrem Kern beständigen Materialzelle. Hiermit gelang es Meadowcroft aber, die Aufmerksamkeit zu fesseln, erst gegen Ende flachte diese gelinde ab. Besonders der Einsatz des mit Flöte, Oboe, Klarinette, Violoncello, Harmonium/Klavier und Schlagzeug - hier besonders eine Schleifmaschine und das Reiben zweier Stick-Enden auf einem Plastik-Paukenfell - besetzten Ensembles überzeugte, ein stählerner, direkter Klang mit einer starken, formbildende Dynamik zog das Interesse auf sich.

Ziemlich überhaupt kein Interesse konnte das dritte Stück des Konzerts, Annette Schmuckis "die sprunghafte erweiterung des wortschatzes" erregen, eher eine zwanzigminütige Lethargie. Ich halte es für problematisch, Neuer Musik vorzuwerfen, sie wolle nach Neuer Musik klingen und die Forderung nach wirklicher Neuheit der verwendeten Mittel ist ohnehin schon seit längerem obsolet, wenn man vielleicht vor Komponisten wie Ferneyhough absieht, die auf gewisse Weise auch heute noch die klassischen Forderung der Avantgarde einzulösen vermögen. Die Kritik an Annette Schmucki soll sich daher einzig auf die Tatsache beschränken, dass ihr Stück eine entsetzliche Langeweile ausstrahlte. Sprecher Peter Fischli musste unentwegt in atemberaubendem Tempo assoziative Wortkonvulsionen hervorbringen, die wenig Geist hatten, anders als geistreich-witzig aber nicht gemeint gewesen sein können. Dem hektischen Gestus des Sprechers folgend produzierten Akkordeon, Posaune und Schlagzeug eine recht durchsichtige Klangtapete, die ziemlich ziellos um den enervierenden Wortschwall gruppiert war und wenig Kontur verriet. Warum überdies die vier Ausführenden am Beginn - in einer Reihe aufgestellt - auf der Stelle marschiert sind und sich dann in eine gängige Ensemble-Aufstellung begeben haben, blieb ähnlich dunkel wie die unmotivierten Hiphop-Einlagen des Schlagzeugers.

Kampe: Vorweg - Ein tolles Konzert! Neue Musik kann fetzig sein, kann sensibel, melancholisch sein, kann nervös sein - kann Spaß machen. Auf höchstem Niveau dargeboten vom immer wieder grandiosen Ensemble Modern, unter der Leitung von Kasper de Roo.

Enno Poppe hat den deutlichen Titel "Scherben" gut gewählt: Das Stück schneidet sich ein. Da geht´s hoch her und schließlich zerfällt das Stück in Nichts. Der Eindruck ist unklar: Schärfe und Rigidität sind ein großes Plus, doch müssen so viele Töne sein? Poppe schreibt, dass es sich um sein bislang "rigidestes" Stück handele. Rigide nicht nur, wie erwähnt in der Klanglichkeit, sondern auch in der formalen Konzeption: 121 knappe Teile folgen aufeinander, werden verändert, vertauscht. Die Widersprüchlichkeit der Musik besteht aus dem Wechsel von Kontrast und ständiger Wiederholung. Das klingt alles sehr logisch und durchdacht, doch es bleibt der Eindruck einer lauten Materialschlacht. Kasper de Roo gibt dem Stück, durch sein scharfes und präzises Dirigat, eine persönliche und eindrückliche Note.

Das letzte Konzert beinhaltete Musik, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnte: kein Klang, der nicht bis in die kleinsten Feinheiten ausgehört wurde. Rebecca Saunders malt "dichroic seventeen" mit dem dünnsten Pinsel, zeichnet auch Unschärfen ungeheuer präzise. An diesem Stück stimmt alles: es hat eine intime Atmosphäre und zeigt gleichzeitig Zähne. Viele Komponisten haben sich schon mit Übergängen zwischen Ton und Geräusch beschäftigt, Saunders schafft hier eine höchst eigentümliche Aura und ist eine Meisterin der Instrumentation. Wie in anderen Stücken, so taucht auch gegen Ende eine besondere Saundersche Spezialität auf: Der Einsatz von Gegenständen, die durchaus melancholisch verklärend, die Vergangenheit heraufbeschwören. Das ist manchmal eine Spieldose oder ein paar "schöne" Dreiklänge, hier ist es das Knacken eines Plattenspielers, dessen Klanglichkeit sich wunderbar einfügt und vollkommen logisch erscheint.

Für elf tiefe Instrumente schrieb Ligeti 1961 sein knapp sechs-minütiges Fragment zu Ehren des Verlegers Alfred Schlee, der durch seine im Namen enthaltenen Töne (SCH und EE) verewigt wird. Bei Ligeti sind Liegetöne keine Ausruhtöne. Da ist alles genau gesetzt, perfekt überlegt. Auch in seinem wirklich seltsamen Fragment ist das zu hören. Da gibt es nur ein paar wenige heftige Momente und dann kann hat man Zeit, dem ganzen Leben eines Klanges nachzuspüren. Selbst in einem so kurzen Stück, ist der Meister Ligeti zu hören und die Aufführung des Werkes war zweifellos ein Höhepunkt des diesjährigen Festivals.

Es folgte ein extremer Gegensatz: Andreas Dohmens sehr nervöses Werk "frottages." Es tastet musikalische Dichtestadien wie ein Elektronenmikroskop ab und erhält erstaunlich facettenreiche Ergebnisse: Da brodelt die Musik, da steht sie still, da wird man überflutet von Informationen. Immer ist Dohmen aber Herr über seine Strukturen, was aus dem Ruder läuft, ist wohl kalkuliert: der Zufall ist präzise. Dohmen bezieht zu jedem Ton und jedem Geräusch Stellung; von Dohmen wird noch viel zu hören sein!

Hanusa: Haus Witten war dieses Jahr das Haus der Installationen; zwischen den mittelalterlichen Kellergewölben und dem "Turmzimmer" wird man von Manos Tsangaris mit der Notwendigkeit Entscheidungen zu treffen konfrontiert, rauscht Paulo Chagas´ "Projektion", kann man Volker Staubs "Witterungsinstrumente" abhören.

Tsangaris hat auf einer DVD ein "Spiel" programmiert, in welchem der Spieler sich mittels einer Fernbedienung jeweils zwischen zwei Möglichkeiten zu entscheiden hat, um durch eine Parcour verschiedener Bild-/Klangstationen zu finden. In zwei weiteren Spielen geht es darum, mittels des Ziehens an Fäden den Ablauf einer Phantasie-Apperatur auszulösen oder wie in einer Losbude verschiedene Ereignisse hervorzuzaubern. Immer wieder Situationen, in denen Entscheidungen getroffen werden müssen, in denen die Gefahr droht, eine Niete zu ziehen, aus dem Spiel auszuscheiden.

Paulo Chagas hat in den Konferenzraum eine fast zweistündige elektronische Komposition installiert. Über zwölf an den Wänden im Kreis angebrachte Lautsprecher rotiert ein unaufhörliches Zeitrauschen, das Prasseln eines in eine Computerschleife geratenen Sprachfragments, nachbearbeitet, kompositorisch moduliert, in verschiedenen Dichtegrade und Klangfarben montiert. Ein Komposition, die durch ihre konsequente Materialbeschränkung bei gleichzeitiger Vielfalt des musikalischen Gestaltwandels unter der fast monochromen Oberfläche wirkt, ein Stück, welches vermag, den Besucher für längere Zeit im Installationsraum festzuhalten.

Eine ganz andere Klanglichkeit verwendet Volker Staub in seinen "Witterungsinstrumenten": Über Kontaktmikrophone wird die Resonanz verschiedener, im umliegenden Park verteilter Materialien - gespannte Stahlseile, Metall- und Holz-Platten - in den gläsernen Kammermusiksaal übertragen. Zum einen das "Abhören" der Umgebung, von Witterungseinflüssen und vorbeifahrenden Zügen, zum anderen aber auch eine starke Denaturierung durch die verwandte Technik, wenn das Rauschen und Knistern der Übertragungswege die Außengeräusche verfremdet, teilweise überdeckt. Eine unwirkliche Atmosphäre entsteht, wenn die alltägliche Umgebung von einem quasi externen Ohr abgehört wird, im Kammermusiksaal eine extramundane Abhörstation der umgebenden Normalität geschaffen wird.

Die Klänge der Installation bildeten zudem die akustische Grundierung der Komposition "Quartett" für vier Metaltrommeln und vier Schwirrhölzer, die im Kammermusiksaal in der Performance I uraufgeführt wurde. Volker Staub hat gerade auf vier unterschiedlich großen Metalltrommeln einen höchst differenzierten Katalog unterschiedlicher Spiel- und Klangmöglichkeiten erforscht. In seiner Komposition setzt er diese zunächst in mehreren, durch jeweils ein Material-Set bestimmten Blöcken hintereinander ein, ohne das hier ein Zusammenhang erkennbar würde. Ähnliches gilt für den Einsatz der für sich genommen sehr reizvollen Schwirrhölzer, welcher ebenfalls als separater Block für sich steht. Erst im letzten Teil der Komposition werden die verschiedenen Material-Sets zu einem zusammenhängenden Ablauf verbunden, letzteres hätte man sich jedoch eher gewünscht.

Die andere Performance bestritt der Wiener DJ dieb 13 alias Dieter Kovacic, der auf drei Plattentellern aus und mit einem kleinen Mischpult aus der Witterner Musikproduktion der vergangenen Jahre einen zwanzigminütigen "Remix" improvisierte. Augenscheinlich fühlten sich die Veranstalter berufen, der Entwicklung der letzten Jahre Rechnung zu tragen, dass aus der tanzbaren Elektronik-Szene ein eigenständiger Zweig Neuer Musik zu wachsen begonnen hat. Leider wirkte dieb 13 im Glaskasten des Kammermusiksaals irgendwie verloren; es entstand um sein Tun an den Plattentellern nicht die Aura eines in den Raum gesetzten Klangsobjekts, jener Reiz der mis-en-scene einer derartigen Performance, die unter anderem den innovativen Aspekt der DJ-Musik für die schon etablierte Klanginstallation ausmacht, bliebt leider aus, die Veranstaltung wirkte etwas alibihaft.

Auf dem Heimweg fällt am Wittener Bahnhof ein grüner Container auf. Es handelt sich um Bruce Odands und Sam Auingers Installation "Box 30/70", die hier "urauffgeführt" worden ist und im Laufe des Jahres noch in weiteren europäischen Städten zu sehen sein wird. Man betritt den schallisolierten Container auf Socken, steht in einem dunklen Raum. Auf einem Monitor sieht man Autos fahren, auf einem anderen erscheint ein Diagramm. Man hört Autos fahren. Wie man später aus dem höchst umfangreichen Presse-Material und den Erklärungen der Aufsicht erfährt, nimmt ein in einem zwei Meter langen Resonanz-Rohr angebrachtes Mikrophon den Straßenlärm ab und überträgt diesen in das Container-Innere. Nicht nur hier ist es dem Wittener Festival alles in allem gelungen, auch bekannte Dinge irgendwie neu und interessant erscheinen zu lassen, einige Höhepunkten mal wieder dort zu setzen, wo man diese nicht unbedingt erwartet hatte.

Da capo al Fine

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