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Musikfestspiele
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1. bis 4. Juni 2001
17. Tage Alter Musik Regensburg

Hochkarätige Bestandsaufnahme der historischen Aufführungspraxis

Von Ingo Negwer



Nach dem Experiment des vergangenen Jahres, die sogenannte Alte und Neue Musik in einem zehntägigen Festival einander gegenüberzustellen, kehrten man am Pfingstwochenende wieder zum bewährten Konzept der "Tage Alter Musik Regensburg" zurück. Vom 1. bis 4. Juni wurden 13 Konzerte mit Musik von den französischen Trouvères bis hin zu Johannes Brahms und Johann Strauß (Sohn) aufgeführt. 14 Ensembles aus Belgien, Italien, Mexiko, aus den Niederlanden, den USA und aus Deutschland traten an historischen Orten der Regensburger Altstadt auf. Im Salzstadel an der Steinernen Brücke begleitete wiederum eine internationale Verkaufsaustellung mit Musikinstrumenten, Noten und Zubehör den Konzertreigen.

Den Festivalauftakt gestaltete das belgische Orchester Il Fondamento unter der Leitung des Oboisten Paul Dombrecht. Auf dem Programm stand "Französische Orchestermusik am Dresdner Hof". Welche Beziehung die dargebotenen Werke von Jean Baptiste Lully, André Campra, Jean-Joseph Mouret und Jean-Féry Rebel zur kursächsischen Residenz hatten, blieb den Konzertbesuchern allerdings auch nach intensiver Lektüre der ansonsten, wie gewohnt, vorzüglichen "Programm Zeitung" verborgen. Il Fondamento, nach 1999 zum zweiten Mal in Regensburg, überzeugte wiederum mit vollem, warmen Streicherklang, dem die Bläser durch ausgefeilte Klangbalance Farben und Schattierungen beimischten. Das Konzert war jedoch vor allem eine interessante Begegnung mit noch weitgehend unentdeckten Meistern des französischen Barocks.

Il Fondamento
Il Fondamento in der Minoritenkirche (Foto: Pro Musica Antiqua)

Mittelalterlich ging es im Nachtkonzert mit dem Ensemble Fortune's Wheel (USA) zu. Im Reichssaal versetzten die vier Musiker das Publikum in die Zeit der französischen Trouvères, deren Tradition im 13. und 14. Jahrhundert über Adam de la Halle bis hin zu Guillaume de Machaut fortlebte. Diese Musik wird durch Improvisation erst lebendig und durch die musikantische Lust am Spiel. Fortune's Wheel hat das Wissen um die Aufführungspraxis der Rondeaus, Chansons und Virelais verinnerlicht; Lydia Heather, Paul Cummings, Shira Kammen und Robert Mealy leben die Musik und erwecken sie damit zu neuem Leben.

Auf einen kurzweiligen Streifzug durch die Musikgeschichte entführte das Flanders Recorder Quartet am Samstagmorgen sein Publikum im Reichssaal. Das Programm reichte von anonymen mittelalterlichen Werken, wie dem "Lamento di Tristano", über Jan Pieterszoon Sweelinck ("Ballo del granduca") bis hin zu Arrangements von Kompositionen Antonio Vivaldis (Concerto grosso op. 3/8) und Johann Sebastian Bachs. Mit Ryohei Hiroses "Idyll" erklang zum Abschluss des Konzerts auch das Werk eines zeitgenössischen Komponisten. Das Flanders Recorder Quartet beeindruckte durch eine Homogenität, in der jede Einzelstimme ihr individuelles Gewicht behält. So erlangten etwa die Adaptionen Bachscher Orgelwerke ("Vater unser im Himmelreich" BWV 737, Fuge a-moll BWV 543) eine auf dem Originalinstrument kaum mögliche Transparenz und Vitalität.

Flanders Recorder Quartet
Das Flanders Recorder Quartet im Reichssaal (Foto: Pro Musica Antiqua)

Das Ensemble Pian & Forte verzichtet im Vergleich zu anderen italienischen Barockorchestern auf extravagante, spektakuläre Interpretationen. Den am Nachmittag in der St.-Oswald-Kirche dargebotenen Kirchensonaten von Heinrich Ignaz Biber und dessen Sohn Carl Heinrich sowie den Orgelkonzerten von Georg Friedrich Händel und John Stanley kam diese eher gelassene Virtuosität der Mailänder sehr entgegen. Ob eine Truhenorgel das angemessene Soloinstrument für Händels Konzert B-Dur op. 4/6 ist, sei dahingestellt. Pian & Forte und Antonio Frigé (Orgel und Leitung) machten aus der Not jedenfalls eine Tugend und nahmen das Werk kammermusikalisch intim. Einige Unsicherheiten und unmotivierte Temposchwankungen des Solisten irritierten allerdings. Überzeugender gelang die Interpretation des Orgelkonzerts D-Dur op. 2/1 von John Stanley. Doch die Entdeckung dieses Konzerts waren die beiden festlichen Sonaten des jüngeren Biber. Hier brillierten insbesondere die vier hervorragenden Trompeter von Pian & Forte.

Mit großer Spannung erwartet wurde der zweite Auftritt des Symphonieorchesters Anima Eterna unter der Leitung von Jos van Immenseel bei den "Tagen Alter Musik Regensburg". Die Belgier, die im vergangenen Jahr mit einem reinen Mozart-Programm anreisten, führten nun Orchesterwerke von Johannes Brahms und Johann Strauß (Sohn) auf. Wie mögen Brahms' "Haydn–Variationen" in historischer Aufführungspraxis klingen? Was unterscheidet den (rekonstruierten) "Originalklang" von dem eines gewöhnlichen Sinfonieorchesters? Die Differenzen sind, zugegeben, weniger gravierend als bei Mozart oder Schubert oder gar bei Bach und Vivaldi. Nichtsdestotrotz ist die ausgewogene Balance zwischen den Instrumentengruppen von Anima Eterna beachtlich. So büßte der Orchesterklang selbst im grandiosen Passacaglia-Finale der "Variationen" nichts von seiner Transparenz ein.

Anima Eterna
Anima Eterna in der Minoritenkirche (Foto: Pro Musica Antiqua)

Drei vom Komponisten selbst orchestrierte "Ungarische Tänze" wiesen den "kühlen" Brahms als Schöpfer effektvoller Orchestermusik aus und schlugen so die Brücke zu Johann Strauß (Sohn), dem der zweite Teil des Konzerts gewidmet war. Jos van Immenseel und Anima Eterna nehmen den "Walzerkönig" Strauß als Komponisten ernst und stellen ihn in die Tradition der deutsch-österreichischen Sinfoniker. Selten konnte man bislang die Ouvertüre zur "Fledermaus" so kontrastreich zugespitzt hören. Im Walzer "Nordseebilder" ließ van Immenseel das Meer bedrohlich aufbrausen. Der "Ägyptische Marsch" nahm – Verdi ließ grüßen – opernhafte Züge an. Die entschlackte Agogik der Walzer war jedoch nicht so prägnant; hier kam die Musik trotz lebhafter Tempi nicht recht in Schwung. Dessen ungeachtet ging van Immenseels Konzept eines "rekonstruierten" Strauß auf. Das Resultat wurde vom Publikum stürmisch gefeiert, so dass sich Anima Eterna mit zwei Zugaben ("Frühlingsstimmen", "Tritsch-Tratsch-Polka") verabschiedete.

Den Konzertreigen am Samstag beschloss die Capella Pratensis aus den Niederlanden mit der Messe "Puer natur est nobis" von Pierre de la Rue, die möglicherweise anlässlich der Geburt Kaiser Karls V. im Jahre 1500 aufgeführt worden war. Das Nachtkonzert fand im Dom St. Peter statt, der nun wohl – so ist zu hoffen – ebenfalls zu den festen Konzertorten des Festivals zählt. Die Capella Pratensis betonte die transparente Stimmführung im polyphonen Gewebe der Kompositionen de la Rues. Die eher spartanische Interpretation ließ jedoch den Raumklang nicht recht zur Entfaltung kommen. Etwas mehr Sinnlichkeit hätte der Musik sicherlich gut getan.

Das erste Konzert am Pfingstsonntag bestritt das junge deutsche Ensemble Trazom mit Klaviertrios der Wiener Klassik. Urte Lucht (Hammerflügel), Susanne von Bausznern (Violine) und Stefan Fuchs (Violoncello) pflegen ein sensibel aufeinander abgestimmtes, feinnerviges Spiel, das insbesondere in den Werken Haydns (Klaviertrio Es-Dur Hob. XV:29) und Mozarts (Klaviertrio G-Dur KV 564) schön zur Geltung kam. Beethoven markiert hingegen mit seinem "Geister-Trio" op. 70/1 offenkundig einen Wendepunkt in der Aufführungspraxis. Die intimen Mittel "häuslichen" Musizierens reichen hier nicht mehr aus, um die Komposition voll zur Geltung zu bringen. Insbesondere wollte mancher rhythmische Akzent mit dem von Trazom gewählten Hammerflügel nicht recht gelingen. Nichtsdestotrotz ein vielversprechendes Debüt des jungen Ensembles bei den "Tagen Alter Musik"!

Bei ihren beiden vorangegangenen Auftritten in Regensburg begeisterten die Sonatori del la Gioiosa Marca das Publikum mit vitalen Interpretationen italienischer Barockmusik. In diesem Jahr kamen sie mit einem reinen "Bach"-Programm in die ehemalige Reichsstadt an der Donau. Zusammen mit den Cembalisten Miyuki Takahashi, Marieke Spaans, Julia Theis und Giampietro Rosato führten sie Johann Sebastian Bachs Konzerte für zwei, drei und vier Cembali auf (BWV 1060, 1061, 1063-1065). Wiederum konnten die Sonatori del la Gioiosa Marca – einschließlich der vorzüglichen Solisten – überzeugen. Das nahezu perfekte Zusammenspiel und der rhythmische Drive des Ensembles ließ das Nachmittagskonzert in der St.-Oswald-Kirche zu einem der gefeierten Höhepunkte des diesjährigen Festivals werden.

Sonatori del la Gioiosa Marca
Die Sonatori del la Gioiosa Marca in der St.-Oswald-Kirche (Foto: Pro Musica Antiqua)

Im 17. und 18. Jahrhundert war es üblich, Orchestermusik ad libitum mit Bläsern zu verstärken, auch wenn dies nicht explizit in den Partituren vorgesehen war. Das Barockorchester Modo Antiquo hat diese Erkenntnisse der musikwissenschaftlichen Forschung zur Grundlage seiner Interpretationen gemacht. In der Minoritenkirche führten die Florentiner unter der Leitung von Federico Maria Sardelli Kompositionen von Corelli, Händel und Vivaldi auf. Besonders Corellis Concerti grossi Nr. 1 und 4 aus Opus 6 bekamen durch das Mitwirken von Trompeten einen festlichen Charakter. Der Wechsel zwischen dem Concertino – der Solistengruppe – und dem Tutti wurde zu einem effektvollen Spiel mit den Klangfarben. Mit seinen höchst virtuosen Darbietungen, die von großer Perfektion geprägt sind, hat Modo Antiquo mit seinem Regensburger Konzert unter Beweis gestellt, dass es zu den herausragenden Barockorchestern zählt. Insbesondere Vivaldis Concerto per archi g-moll RV 157 mit einem geradezu furios vorgetragenen Schlusssatz hat einen tiefen Eindruck hinterlassen. Am Ende des Konzerts wurden die Musiker vom Publikum begeistert gefeiert.

Modo Antiquo
Modo Antiquo in der Minoritenkirche (Foto: Pro Musica Antiqua)

Das Nachtkonzert im Reichsaal gestaltete Ex Umbris aus New York mit "Liedern, Balladen und Tänzen der spanischen Renaissance". Über mehrere thematische Stationen (Mauren – Juden – Canarias) führte das Programm zur "Romance de Conde Claros", die nach Vorlagen des 16. Jahrhunderts von Grant Herreid rekonstruiert wurde. Die Geschichte vom Grafen Claros, der zu guter Letzt doch glücklich in den Armen seiner Geliebten landet, mündete schließlich in einen temperamentvollen Tanzreigen. Das Konzert lebte vom natürlichen, recht musikantischen Umgang der Interpreten mit den überlieferten Werken, die sie in vitalen Arrangements mit einer Vielzahl an Instrumenten darboten. Im Detail gab es da manches Defizit, der Gesamteindruck war aber durchaus stimmig.

"Galante Kammermusik des Spätbarock" stand auf dem Programm der Matinee am Montagmorgen. Die Musicians of the Old Post Road (USA) und La Fontanegra (Mexiko) spielten Kompositionen von Georg Philipp Telemann, Sebastian Bodinus sowie von den Brüdern Juan und José Pla. Den beiden Ensembles, die bereits mehrfach zusammen auftraten, zeichneten sich durch ein homogenes, lebendiges Zusammenspiel aus. Insbesondere kam die starke Besetzung des Basso continuo mit Violoncello oder Gambe, Chitarrone/Gitarre und Cembalo den dargebotenen Werken sehr entgegen. Nichtsdestotrotz waren die Musicians of the Old Post Road, die eine Triosonate D-Dur von Juan/José Pla nach der Pause alleine interpretierten, eine der Entdeckungen der diesjährigen "Tage Alter Musik": So expressiv und virtuos, wie Suzanne Stumpf (Traversflöte), Julia McKenzie (Violine), Daniel Ryan (Violoncello) und Michael Bahmann (Cembalo) das Werk der beiden spanischen Brüder spielten, weckten sie Appetit auf mehr...

In der Dominikanerkirche gab es am Nachmittag ein Wiedersehen mit Anonymous 4. Die vier Spezialistinnen für die Aufführung mittelalterlicher Vokalmusik stellten ihr aktuelles Programm "1000 – Eine Messe zum Ende der Zeit" vor. Jacqueline Horner, Marsha Genesky, Johanna Maria Rose und Susan Hellauer sangen mit leichten, quasi schwerelosen Stimmen. Wieder einmal gelang es ihnen eindrucksvoll, den Kirchenraum mit den schlichten ein- bis zweistimmigen Gesängen zum Klingen zu bringen. Im Zentrum des Konzerts stand eine Messe an Christi Himmelfahrt, von Anonymous 4 aus südwestfranzösischen Quellen (St. Martial) und aus dem englischen Winchester Tropar zusammengestellt. In den Tropen – textliche und musikalische Einfügungen in die Gesänge des Ordinariums und des Propriums – wurden die liturgischen Gesänge mit der um das Jahr 1000 erwarteten Apokalypse in Verbindung gebracht. Rezitationen aus Texten von Ovid, Yeats, Jacobus de Voragine und William Blake, in denen ebenfalls das "Ende der Zeit" thematisiert wurde, begleiteten die Stationen der bei aller Sparsamkeit der Mittel sehr eindrucksvollen Darbietung.

Anonymous 4
Anonymous 4 in der Dominikanerkirche (Foto: Pro Musica Antiqua)

Mit geistlicher Musik ging das diesjährige Regensburger Festival auch zuende: Die Capella Ducale Venetia zelebrierte Claudio Monteverdis "Vespro della Beata Vergine". Das durchweg hochkarätig besetzte Ensemble unter der Leitung von Livio Picotti gestaltete das gewaltige Werk als kontemplative Andacht. Dabei griff man auf die gebräuchliche Praxis zurück, die Marien-Vesper durch Antiphonae zu ergänzen (hier aus dem "Cantus planus Patriarchino", der an San Marco in Venedig gebräuchlich war). Picotti vermied jede extrovertierte musikalische Geste und führte so dieses Hauptwerk der barocken italienischen Kirchenmusik zurück zu seiner liturgischen Bestimmung: der Verehrung der Gottesmutter. Nachdem die letzte Antiphona verklungen war, feierte das Publikum in der ausverkauften Minoritenkirche die großartige Aufführung mit lang anhaltendem Applaus.

Capella Ducale Venetia
Die Capella Ducale Venetia in der Minoritenkirche (Foto: Pro Musica Antiqua)

Die "Tage Alter Musik" waren in diesem Jahr eine rundum überzeugende Veranstaltung. Die Verantwortlichen hatten bei der Auswahl der Ensembles und der Zusammenstellung der Programme eine außerordentlich glückliche Hand. Neuentdeckungen (Fortune's Wheel, Musicians of the Old Post Road) und Wiederbegegnungen (Sonatori de la Gioiosa Marca, Anonymous 4) hielten sich die Waage. Neben dem zentralen Repertoire der historischen Aufführungspraxis um Bach und Barock gab es manch gelungenes Experiment (Johann Strauß) zu hören. – Fazit: Es ist nach wie vor viel Bewegung in der historischen Aufführungspraxis. In Regensburg gab es einmal mehr eine aktuelle Bestandsaufnahme der "Szene". Dies zeichnet das Pfingstfestival bereits seit vielen Jahren aus. Doch nun haben sich die "Tage Alter Musik Regensburg" mit ihrem unverwechselbaren Charakter endgültig im Kreis der bedeutendsten Festivals dieser Art in Europa etabliert. Den Vergleich mit Brügge, Utrecht oder Herne braucht man an der Donau nicht mehr zu scheuen.




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