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Musikfestspiele
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Freitag, 05.05.2000 bis Sonntag, 07.05.2000, Witten

Wittener Tage für Neue Kammermusik




Schwerpunkt Stimmerforschung

Wittener Tage für Neue Kammermusik

Von Sebastian Hanusa

Ein Schwerpunkt der diesjährigen Wittener Tage für Neue Kammermusik waren Kompositionen, die sich im Grenzbereich von Musik und Theater, von Sprache, Laut und Gesang ansiedelten, die versuchen, dort Grenzbereiche auszuloten. Diese Thematik greift der seit langem in Paris lebende und arbeitende Grieche Georges Aperghis auf, von dem zwei Kompositionen aufgeführt wurden: "Recitationsfür eine Stimme (1978/79)" , ist wohl eine Art Schlüsselstück für die Entwicklung von Aperghis, bestehend aus 14 ,,Rezitationen", eine komponierte, musikalisierte Sprache aus Phonemen und Sprachfragmenten zusammengesetzt zu Stimmungsbildern, zu Schlaglichtern bestimmter Befindlichkeiten verdichtete Miniaturen, häufig mittels statistischer Konstruktion (Lautadditionen und Substraktionen...) komponiert. Donatienne Michel-Dansac trug das Stück mit Sensibilität und Konzentration vor.

In Aperghis musikdramatisches Schaffen, wie es in Form von "Machination für 4 Frauenstimmen, Live-Elektronik und Videoprojektion" am Samstagabend im Saalbau zu sehen war findet diese Art der Sprachbehandlung Eingang. In Aperghis Musiktheater, welches in Witten durch das 1976 vom Komponisten in Paris gegründete Ensemble ATEM realisiert wurde, wird die oben beschriebene Komposition von Stimmhaftem mit Texten, Instrumentalmusik, Schauspiel, Elektronik und Multimedia kombiniert. Es entstehen Stücke ohne durchlaufende Handlung, jedoch mit einer Vielzahl an Verweisen und Andeutungen. Vier Frauen sitzen in "Machination" nebeneinander an beleuchteten Tischen, die Tische von Videokameras abgefllmt, projezierbar auf vier Leinwände im Rücken der Frauen. Gegenstände wie ein Büschel Haare, kleine Stöckchen, Papier... werden auf den Tischen ausgebreitet, dazu singen oder sprechen die Frauen, Texte oder Lautmelodien; Charaktere werden angedeutet, Interaktionen - kommentiert von Live-Elektronik und Einspielungen. Die Szenen reißen plötzlich ab, verlieren sich, andere Verweise, Settings werden übergeblendet, Andeutungen nicht vollzogener Dramaturgie kummulieren in gegenseitiger Konkurrenz. Der Phantasie des Publikums bleibt es überlassen, Sinnstränge herauszufiltern oder ins Geschehen hineinbzulesen. Bei alledem gelingt es Aperghis die Materialfülle zu einem einstündigen, packenden Ganzen zu komponieren, welches den Zuhörer fesselt, musikalisch funktioniert.

Auch Silvia Fomina kombiniert in ihrem Musiktheater "Endspiel: Ouvertüre für Solostimmen, Kommentator und Figuranten" - einem Teil der noch unvollendeten Oper Schah Mat - theatralische Elemente, Gesang, Instrumentarium und Elektronik zu einer Textur ohne erzählte Handlung. Bei Aperghis wird mit dramatischer Fiktion, Bedeutungsträgern ohne Bedeutung gespielt, die Sprache von ihrer Rückseite her präsentiert. Der Zuschauer sieht aus der Sicht des auf der Bühne dargestellten durch die musikalische Textur auf sich selber, zudem wird das Belegen des sinnlosen Bühnengeschehens mit Sinn ihm durch Verweise und Andeutungen, die durch die Brüche das Materials hervorscheinen, angetragen. In Silvia Fominas Musiktheater hingegen treten nicht nur die einzelnen Sänger als Schachfiguren kostümiert auf, vielmehr erscheinen die gesamten Materialien als "Schachfiguren", indem sie sich als Fremde in einem System von Spielregeln bewegen, welches ihnen genauso äußerlich ist, wie sie sich zueinander im gesamten Stück bleiben. Das verwendete Material, die Neuen Vokalsolisten Stuttgart in ihren Gesangsparts, der am szenischen Geschehen teilnehmende Quartettprinzipal Irvine Arditti wie seine "nur" begleitenden Quartettkollegen, treten in dem durch äußere Regeln determinierten Spiel in keine direkt wahrnehmbare Interaktion. Dem Zuschauer bleibt es bis zu einem gewissen Grad fremd, das Stück berührt durch die formale Konsequenz seiner Umsetzung, weniger durch das Gemachte auf der Bühne.

Vor "Endspiel: Ouvertüre" erklangen "spectres-speculaire für Violine und Live Elektronik" von Unsuk Chin und "Broken Consort für Ensemble mit Live-Elektronik" von Kilian Schwoon. Chins Werk basiert auf dem Prinzip von Ursache - Violintöne, mit Kontaktmikrophon abgenommen - und Folge - Live-Elektronik, die den Violinton als Ausgangsmaterial nehmend verschiedenartige Varianten und Veränderungen erzeugte. Der Violinpart war stark schematisiert, in Blöcken wurde jeweils eine ganz bestimmte Art der Klangerzeugung präsentiert (Tratto, Pizz...); der Part fesselte wenig durch kompositorisches Raffinement, ein wenig drängte sich der Eindruck auf, die Violine wurde nur benötigt, um das akustische Ausgangsmaterial für eine elektronische Etüde zu liefern - eine Elektronik, die zwar durch Einfälle erfreute, aber wenig packende Strukturen enthielt. Danach Schwoons "Broken Consort", ein ruhiges Ensemble-Stück, in dem eine weiche, warm instrumentierte Klangstruktur einer allmählichen Veränderung unterzogen wird, die erst gegen Ende einem kleinen Höhepunkt entgegensteuert. Diese behutsame Entwicklung des Klanges aus sich selber heraus wurde durch einen Klanghintergrund vom Synthesizer ergänzt, der den flächigen Instrumentalklang zusätzlich auffüllte, ohne eigene kompositorische Akzente zu setzen. Zum Abschluß des Abends die Impro-Kornposition "The Poetry of Solitude" der Gruppe Polwechsel, von Polwechsel-Mitglied Bernhard Stangl selber als "ereignislose Musik" bezeichnet. Es erklingen lang angehaltene Töne, oftmals an der unteren Hörbarkeitsschwelle, gerade noch ihr eigenes Verklingen fortsetzend. Musik, die atmosphärische dicht sein kann, als Abschluß des sehr verschiedenartigen Konzerts jedoch nicht geeignet war, somit ihre Wirkung verfehlte.

Am Sonntag erklang mit "voi(x)es metallique(s) (Zinngeschrei) für einen unsichtbaren Schlagzeuger" von Heinz Holliger ein weiteres Stück zum Thema Musikszenen. Die Bühne des Sallbaus ist mit schwarzem Stoff verhängt, lediglich ein mannshohes, rundes Loch ist ausgespart, darin befindet sich, das Loch ausfüllend, ein Gong. Dahinter, unsichtbar für das Publikum, spielte Schlagzeuger Matthias Würsch auf dem Gong, auf ein wenig weiterer Percussion, macht Vokalaktionen wie brummen, summen, Schreie ausstoßen. Eine szenische Idee von ungeheurer Prägnanz, nur Holligers Musik gelingt es nicht, dem vollauf gerecht zu werden. Dem umfangreichen Einsatz verschiedener Spieltechniken auf dem Gong fehlt eine gewisse Kontur, die Vokalisen des Schlagzeugers wirken ein wenig unmotiviert.

In einem weiteren Sinne findet sich die Verbindung von Szene und Klang im Instrumentarium der menschlichen Stimme, indem das Instrument in einem Darsteller festgewachsen ist, dessen Körper als Resonanzraum benötigt, immer ein leibhaftiger Mensch bei seinem Erklingen dabeistehen muß. Drei Kompositionen für Vokalensemble a capella erklangen in Witten. "Anatra al sal für sechs Stimmen" von Lucia Ronchetti, in der Tradition des italienischen "darstellenden Madrigals", kommt einer Szene am nächsten. Die Sänger verkörpern je eine Person in einem Handlungsablauf, der die Zubereitung einer Ente durch eine Gruppe eitler und konkurrierender Meisterköche beinhaltet. Carola Bauckholts "nein allein für fünf Stimmen" ist sowohl Erforschung der musikalischen und sängerischen Qualität von Lauten oder auch Worten wie "Bratkartoffel" oder "Zwetschge", wie auch munterer Diskurs fünf unterschiedlicher Charaktere - auf einen nonsense-Text. Zudem Salvatore Sciarrinos "Tre canti senza pietre für sieben Stimmen"; drei Stücke die am ehesten in der Tradition musikalischer Textausdeutung stehen, bereichert durch das szenische Element eines mit verbundenem Mund singenden Countertenors. Alle drei Stücke bedienen sich auf ihre Art der Erweiterung des Verständnisses von Singstimme im traditionellen Sinn durch Formen wie Sprechgesang, Deklamation und Sprachzerstäubung in Laute, wie sie sich im 20. Jahrhundert vollzogen hat, während gleichzeitig eine Verschmelzung mit der Tradition der Renaissance-Polyphonie gelingt.

Einer der Ausgangspunkte von Stimmerforschung im 20. Jahrhundert waren die Lautpoeme von Dada und des russischen Futurismus. Einige dieser Gedichte waren Bestandteil des Programms "Lautpoeten" von Valeri Scherstjanoi und Jaap Blonk. Scherstjanoi übernahm den Part des Sachwalters des russischen Futurismus, trug Texte vor, setzt sich mit seinen eigenen Kompositionen auch in dessen Tradition, wenn er Sprachlaute vor deren Sinnhaftigkeit in der Sprache untersucht und komponiert. Neben den erstaunlichen Stimmverrenkungen und dem überraschenden klanglichen Ergebnissen des Vortrags beider Lautpoeten, war es besonders bei Jaap Blonk die exzessive In-Szene-Setzung seiner Lautgedichte zu surrealen oder rauschhaft-wahnsinnigen Miniatur-Dramaturgien, die diese Gratwanderung zwischen Sprache und Musik zu einem der Höhepunkte des Wochenendes werden ließ.

Ansonsten gab es noch einiges an Instrumentalmusik zu hören. Zwei Streichquartette erklangen, "Six Covered Settings" von Johannes Kalitzke und "Vereinzelt, gebannt - eine Wegbeschreibung" von Günter Steinke. Während letzteres den Eindruck eines angenehmen, ruhigen Stückes hinterließ, ließ Kalitzkes Werk aufhorchen. Ihm ist ein packendes Stück gelungen, welches in jeglicher Hinsicht überzeugte. Er griff auf das gesamte Repertoire heutiger Instrumentation von Streichinstrumenten zurück, ohne daß die Verwendung verschiedenster Spieltechniken als Selbstzweck erschienen wäre, ihm gelang eine vorzügliche Ökonomie, schlüssige Übergänge. Die Dramaturgie des Stückes fesselte und die Fortentwicklung musikalischer Gedanken überzeugte durch große Prägnanz.

Die Komposition "kenosis für Bläsertrio" von Nikolaus Brass ließ mit einer interessanten Instrumentation der drei Holzbläser Flöte (Picc./SopranlAlt), Klarinette/BaiMdarinette und Oboe aufhorchen, in "Passacaglia für Biwa und Violoncello" kombinierte Keiko Harada nicht nur japanisches und europäisches Instrumentarium, sondern inszenierte zugleich ein Spiel mit der Aura zweier Unterschiedlicher Musikkulturen. Die Norwegerin Cecilie &Ociri;re präsentierte ihre Komposition "Non Nunquam für Streichtrio" gleich in zwei Versionen, zusätzlich als extended version "Nunquam Non für Streichtrio, Flöte, Oboe und Klarinette". Man meint in beiden Stücken eine Auffaltung eines einzigen musikalischen Augenblicks auf fünf bzw. zwölf Minuten zu hören. Die Komponistin beschränkt sich in ihrer Materialauswahl auf einige wenige klangliche Patterns, läßt im wesentlichen das gesamte Instrumentarium während der vollen Dauer der Stücke erklingen. Trotzdem stellt sich keinen Langeweile ein, vielmehr entsteht eine fesselnde Textur steten Wandels innerhalb eines Kontinuums.

Zum Abschluß des Wochenendes die beiden Stücke mit der größten Besetzung, "Kinok Concerto für Ensemble" von Thierry De Mey und "Chimera für Ensemble" von Mizato Mochizuki. In "Kinok" hört man eine instrumentale Anlagerung, Klanggruppierung um eine hochvirtuose Oboenstruktur, "Chimera" bildete den heiteren Abschluß des Festivals - munter durchlaufende Rhythmik, sehr viel Schlagwerk, welches sehr durchsichtig eingesetzt wird und repetitive Strukturen, welche den Eindruck leicht ironischer Minimalismus Zitate erwecken.

Die diesjährigen Tage für Neue Kammermusik boten ein abwechselungsreiches Programm mit einiger Höhepunkten - zu nennen wären u.a. die Stücke von Aperghis und Kalitzkes Streichquartett - zudem ließ das Niveau der Ausführung keine Wünsche offen, neben den schon genannten Neuen Vokalsolisten Stuttgart und dem Arditti Quartett boten das ensemble recherche und das belgische Ictus Ensemble überzeugende Interpretationen.

Da capo al Fine

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