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Musikfestspiele
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9. bis 11. Juni 2000


Licht und Schatten an der Donau -
Auftakt der "Tage Alter & Neuer Musik Regensburg 2000"



Von Ingo Negwer

Seit 16 Jahren veranstaltet Pro Musica Antiqua (Stephan Schmid, Ludwig Hartmann) die "Tage Alter Musik" in Regensburg. Inzwischen gehört das traditionell an Pfingsten stattfindende Festival zu den herausragenden kulturellen Ereignissen Bayerns. In diesem Jahr trat erstmals die Stadt Regensburg als Veranstalter auf, während die künstlerische Leitung weiterhin in den bewährten Händen von Pro Musica Antiqua lag. Das Festival 2000 wurde darüber hinaus im Rahmen der bayerischen Milleniumsfeiern auf zehn Tage ausgeweitet und stand unter dem Motto "Tage Alter & Neuer Musik".

Das Spektrum der 30 Konzerte reichte von den mittelalterlichen Carmina Burana über Johann Sebastian Bach, Mozart und Beethoven bis hin zu Luigi Nono, John Cage und Hans Werner Henze, dessen Requiem "Endzeitvisionen" den Schlußpunkt setzte. - Eine monumetale musikalische Retrospektive auf das zurückliegende Jahrtausend, bei der lediglich das 19. Jahrhundert weitgehend ausgespart blieb - warum eigentlich?

Zahlreiche international bedeutende Interpreten sowohl der Alten als auch der Neuen Musik waren in die ehemalige Reichsstadt an der Donau gekommen: La Reverdie (Italien), Le Concert des Nations (Spanien), das Huelgas Ensemble (Belgien), The Harp Consort (England), das Ensemble Recherche (Freiburg i. B.), das Theatre of Voices (USA), das Klangforum Wien, das Arditti Quartet (England) u. v. m. gaben ihre musikalische Visitenkarte in Regensburg ab.

Das Pfingstwochenende (9. bis 11. Juni) stand, wie gewohnt, ganz im Zeichen der Alten Musik. Parallel dazu fand im historischen Salzstadel an der Steinernen Brücke wieder eine internationale Verkaufsaustellung statt, in der mehr als 60 Aussteller Nachbauten historischer Instrumente, Noten und andere Musikalien zeigten und zum Kauf anboten. An den folgenden Tagen (12. bis 16. Juni) standen in zwölf weiteren Konzerten Gegenüberstellungen von Musik vergangener Epochen mit derjenigen des 20. Jahrhunderts auf dem Programm: ein spannendes Unterfangen, bei dem - so Mitorganisator Siegfried Mauser - Affinitäten zwischen der sogenannten Alten und Neuen Musik hörbar gemacht werden sollten. Ausschließlich mit Musik des jüngst vergangenen Jahrhunderts ging das Festival am zweiten Wochenende (17. bis 18. Juni) schließlich zuende.


Festlicher Auftakt mit Bach

Am Freitag Abend begannen die "Tage Alter & Neuer Musik" mit einem Festkonzert zum 250. Todestag von Johann Sebastian Bach. Auf dem Programm des live vom Bayerischen Rundfunk übertragenen Konzerts standen die Kantate "Meine Seel erhebt den Herren", die Motetten "Fürchte dich nicht, ich bin bei dir" und "Der Geist hilft unser Schwachheit auf" sowie das Magnificat Es-Dur.

Die Regensburger Domspatzen unter der Gesamtleitung von Domkapellmeister Roland Büchner stellten mit diesem Festivalauftakt unter Beweis, daß sie zur Elite der Knabenchöre gehören: eindrucksvoll die stimmliche Homogenität und die differenzierte Gestaltung insbesondere in den Motetten. Dennoch zeigt sich bei den doch weitgehend auf der Tradition des 19. Jahrhunderts fußenden Interpretationen der Chorsätze mit einer Großbesetzung, wie fruchtbar die kontroversen Diskussionen über den Chor bei Bach für die historische Aufführungspraxis waren. Die Textverständlichkeit und Transparenz der polyphonen Kompositionen Bachs fielen in den Chorsätzen merklich gegenüber den Arien und Duetten ab. Der Unterschied mußte jedem deutlich geworden sein, der 1997 am selben Ort - in der Dreieinigkeitskirche - Josuah Rifkins "solistische" Aufführung der H-moll-Messe erlebt hatte!

Die Solopartien waren mit Susanne Rydén, Heidrun Kordes, Drew Minter, Markus Brutscher und Peter Harvey ebenfalls hervorragend besetzt. Das Orchester Musica Florea spielte auf gutem Niveau; die Holzbläser konnten in den obligaten Partien der Arien überzeugen. Getrübt wurde der insgesamt sehr positive Eindruck des noch jungen tschechischen Ensembles allerdings durch die schwache Leistung der drei Trompeten, die im Magnificat nur selten zueinander fanden.

Der erste Festivaltag ging zuende mit Musik aus dem Offizium des Heiligen Nikolaus. Die italienischen Ensembles La Reverdie und I Cantori Gregoriani gestalteten gemeinsam das Nachtkonzert in der Dominikanerkirche in Form einer musikalischen Andacht. Fünf Lesungen breiteten das Leben des Heiligen, seine Wundertätigkeit und schließliche Verklärung vor den Zuhörern aus. Einstimmige Gesänge, gelegentlich improvisatorisch zur Zweistimmigkeit ausgeweitet, wechselten mit instrumentalen "Sequentiae". La Reverdie und I Cantori, beides hervorragende Spezialisten auf dem Gebiet der mittelalterlichen Musik, boten ein schlüssiges Gesamtkonzept, in dem der meditative Grundton dominierte.


Französische Ouvertüren "par excellence" -
Le Concert des Nationes und Jordi Savall

Mit mittelalterlicher Musik wurde das Festival am Samstag Morgen fortgesetzt. Das Florentiner Ensemble Modo Antiquo unter der Leitung von Bettina Hoffmann sang und spielte in der St.-Oswald-Kirche Lieder aus der Carmina Burana. Die elf Musiker griffen auf ein umfangreiches Instrumentarium zurück: Von Blockflöten, Gemshörnern, Oliphant, Trompete, Fiedel, Rebec, Laute bis hin zu Glocken, Trommeln und Pauken kam quasi alles zum Einsatz, was im Mittelalter geblasen, gestrichen, gezupft oder geschlagen wurde.

Das Ergebnis war eine an Klangfarben reiche, sehr lebendige Interpretation der teils moralisierenden, teils humorvollen, aber auch derb skurilen Gesänge. Die Texte der Carmina Burana wenden sich mit ihren biblischen bzw. antik-mythologischen Anspielungen an ein gebildetes Publikum. Volkstümlichkeit im eigentlichen Sinne ist ihnen ungeachtet der "deftigen" Sprache fremd. So tat Modo Antiquo gut daran, nicht in einen unpassend folkloristischen Ton zu fallen. Eine kurzweilige, gelungene Matinée!

Das Nachmittagskonzert in der Dreieinigkeitskirche wurde von Le Concert des Nationes (Barcelona) und seinem Dirigenten Jordi Savall gestaltet. Auf dem Programm stand "La Suite Francaise en Europe" - eine Auswahl von Orchestersuiten von Lully bis Händel. Das nahezu perfekte Spiel dieses durchweg mit herausragenden Musikern der Alten Musik besetzten Orchesters ist von farbiger Eleganz, ohne "Ecken und Kanten". Jean-Baptiste Lullys "Suite d'Orchestre" und Marin Marais' "Suite des Airs à jouer" aus dessen Oper "Alcione" gerieten zu gleichsam exemplarischen Aufführungen französischer Orchestermusik des Hochbarock.

Savall betont mit sparsamen Gesten die großen melodischen Bögen. Er läßt die Musik atmen und schwingen. Frische Tempi der schnellen Sätze zeichneten die Interpretation der vierten Ouvertüre von Johann Sebastian Bach (BWV 1069) aus. Eine glanzvolle "Feuerwerksmusik" von Händel stand am Ende eines Programms, das die hochgesteckten Erwartungen mehr als erfüllt hat. Zum Abschluß bedankte sich Le Concert des Nationes mit Zugaben von Händel und Rameau für den begeisterten Applaus des Publikums.

Die Accademia Strumentale Italiana und das Traverso Consort spielten am Abend "Mehrchörige Sinfonien - Canzonen - Sonaten". Die frühbarocken Kompositionen u. a. von Ludovico da Viadana, Giovanni Gabrieli und Tarquino Merula wurden in verschiedenen Instrumentengruppen dargeboten (zumeist Bläser- versus Gambenconsort), wodurch der besondere polyphone Reiz dieser Musik zum Ausdruck kommen sollte. Aufgrund der gewagten Besetzung gelang diese Klangregie jedoch nur zum Teil. So ging beispielsweise das Consort der Traversflöten in der Canzona à 10 von Gabrieli in der Akustik der St.-Oswald-Kirche nahezu vollständig unter. Nichtsdestotrotz musizierten die Instrumentalisten auf einem beachtlich hohen Niveau, obschon ich mir insgesamt etwas mehr Mut zu einer effektvolleren "Italianità" gewünscht hätte, wie sie dieser Musik sicher gut zu Gesicht gestanden hätte.

Der Samstag ging zuende mit einem Konzert im Dom St. Peter. Das Huelgas Ensemble unter der Leitung von Paul van Nevel sang geistliche Vokalmusik der Renaissance: in diesem nach dem Vorbild der französischen Kathedralen errichteten Sakralbau ein ganz besonderes Erlebnis, das zu später Stunde noch circa 1000 Zuhörer miterleben wollten.

Auf dem Programm stand die höchst artifizielle Missa "Et ecce terrae motus" für zwölf Stimmen von Antoine Brumel (um 1460 - um 1520). Ihr vorangestellt wurde, an Stelle dreier ursprünglich vorgesehener "Agnus Dei" à 12 von Nicolas Gombert, ein "Agnus Dei" von Pierre de Manchicourt gesungen. Mit dieser kurzfristigen Programmänderung reagierte das Huelgas Ensemble offensichtlich auf die eklatanten Probleme mit der Akustik des Doms, wie sie in der anschließenden Messe zutage traten. Die zwölf exzellenten Sänger füllten mit Brumels Musik gleichsam schwerelos den Kirchenraum aus. Das Ergebnis war eine ungeahnte pure Klangsinnlichkeit. Der Text und die komplizierten polyphonen Strukturen der Messe verloren sich hingegen in der Weite des Raums. So konnten die Zuhörer unter den quasi authentischen akustischen Bedingungen eines spätgotischen Kathedralbaus erleben, wie die geistliche Musik um 1500 an Grenzen gestoßen war, die notwendigerweise zu Konflikten mit der Liturgie führen mußten.


Schatten zu Pfingsten - The Terra Nova Consort und Bottom's Dream

In der sonntäglichen Matinée ließ The Terra Nova Consort aus den USA südfranzösische Volksmusik der Renaissance mit publikumswirksamen, effektvollen Darbietungen wieder lebendig werden. Angesichts der spärlichen überlieferten Quellen steht jedoch eine auch nur annähernd historische Aufführungspraxis von Volksmusik vergangener Epochen vor nahezu unlösbaren Problemen. Hier konnte auch das Terra Nova Consort weder mit den wenig fundierten Ausführungen im Programmheft (Beispiel: die Gipsy Kings aus Arles/Provence als "berühmteste Flamencogruppe der Welt") noch musikalisch in der St.-Oswald-Kirche überzeugen. Das instrumentale und stimmliche Niveau entsprach schlichtweg nicht dem Standard, den man auf einem solchen Festivals erwarten darf.

Am Nachmittag reichte Bottom's Dream im Leeren Beutel (dem ehemaligen Getreidevorratsspeicher der Stadt Regensburg) einen "musikalischen Aperitif": Paul Shipper (Regie) hat nach einer Idee von Grant Herreid (Musikalische Leitung) unter dem Titel "Il Caffè d'Amore" ein kurzweiliges Pasticcio aus Musik u. a. von Girolamo Frescobaldi, Claudio Monteverdi und Francesca Caccini zusammengestellt. Die Handlung spielt in einer italienischen Bar in unserer Zeit. Es geht um die Liebe und ihre diversen Spielarten - was sonst! Drei Signorine, drei junge Signori, der Barkeeper und eine Kellnerin drehen das Rad des Schicksals...

Szene aus "Il Caffè d'Amore" Szene aus "Il Caffè d'Amore"

Das ist unterhaltsam, kurzweilig und kommt beim Publikum gut an - doch der frühbarocken Musik wird das nicht gerecht. Einst als gewagte Experimente erdacht, einen Text affektvoll musikalisch zu deuten, gleichsam in Szene zu setzen, wird den Kompositionen in Paul Shippers Inszenierung das Wertvollste genommen: sie gehen nicht mehr "unter die Haut". Die Szenen geraten vielmehr zu einem platten Spiel mit Klischees, wenn beispielsweise zu Monteverdis Dialog "Bel Pastor" die Schäferin versucht, das Interesse ihres wie gebannt vor dem Computer sitzenden geliebten Schäfers auf sich zu ziehen, doch dieser letztlich gelangweilt auch noch zum Handy greift!

Musikalisch konnte die Produktion, die als Nachtkonzert ein zweites Mal gegeben wurde, ebensowenig Maßstäbe setzen. Nur die drei "jungen Damen" Jolle Greenleaf, Elizabeth Roman-Silva und Nell Snaidas ließen aufhorchen. Michael Mitchells scharfer Countertenor reichte lediglich an das Niveau der Inszenierung heran und auch Grant Herreid, Philip Anderson (Tenor) und Paul Shipper (Baß), der den virtuosen Koluraturen nicht immer gewachsen war, überzeugten letztlich nicht.

Mit dem Brüsseler Orchester Anima Eterna, Jos van Immerseel (Hammerflügel und Leitung) sowie mit drei Klavierkonzerten von Mozart ging die Programmschiene "Alte Musik" am Sonntag Abend auf die Zielgerade. Musica Eterna kultivierte auf dem Instrumentarium der Klassik einen farbigen Orchesterklang, in den sich der Hammerflügel des Solisten als ein primus inter pares homogen einfügte. Sowohl in dem frühen "Jeunehomme"-Konzert Es-Dur (KV 271) als auch in den "reifen" Konzerten G-Dur und A-Dur (KV 453 und 488) domierte ein gelöster, heiterer Ton. In den langsamen Sätzen kostete Jos van Immerseel die lyrischen Momente aus. Bravo!

Kammermusik für Bläser findet leider nach wie vor nicht die Resonanz beim Publikum, die ihr eigentlich gebührt. Davon konnten sich die - im Vergleich zu den ansonsten sehr gut besuchten Konzerten - wenigen Zuhörer überzeugen, die den Weg in die Neupfarrkirche gefunden hatten, um das Reicha'sche Quintett aus Berlin zu erleben. Auf dem Programm des Nachtkonzerts standen Franz Danzis Quintett D-Dur op. 54, Martin-Joseph Mengals Quintett nach W. A. Mozart und, abschließend, das Quintett Es-Dur op. 16 von Ludwig van Beethoven. Wie zuvor bei Musica Eterna lag auch hier der besondere Reiz in den spezifischen Klangfarben eines jeden "Original"-Instruments, das in dieser Formation auch seine dymamischen Möglichkeiten ausreizen darf. Michael Schmidt-Casdorff (Traversflöte), Hans-Peter Westermann (Oboe), Guy van Waas (Klarinette) und Oliver Kersken (Naturhorn) bildeten ein bestens aufeinander eingespieltes Ensemble. Christine Schornsheim am Hammerflügel (Danzi und Beethoven) paßte sich dem durchweg hohen musikalischen Niveau an.

Mit diesem schönen kammermusikalischen Schlußpunkt gingen die "Tage Alter Musik" zuende, um den Stab weiterzureichen an die sicherlich spannende Gegenüberstellung Alter und Neuer Musik in den nachfolgenden Konzerten (die zu besuchen mir leider nicht möglich war). Zwei Konzerte warfen ihre Schatten über den insgesamt gelungenen Auftakt der "Tage Alter & Neuer Musik". Der Begeisterung eines Großteils des Publikums zum Trotz, konnten sie vor den Augen und Ohren des Rezensenten keine Gnade finden. Zwei Konzerte... - aber auch echte Highlights wie die Auftritte des Concert des Nationes oder von Anima Eterna durfte man erleben: mit solchen Schwankungen war in der Vergangenheit in Regensburg immer zu rechnen, wo man stets das Experiment gesucht und Neues gewagt hatte, anstatt einzig auf bereits etablierte - und teure - "Stars" zu setzen. So wechselten auch im neuen Millenium wieder Licht und Schatten an der Donau einander ab.



Da capo al Fine

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