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Alice im Wunderland der Orgel

Markus Bruderreck im Gespräch mit der Organistin Iveta Apkalna


Von Markus Bruderreck



Organisten zählen zu den Musikern, die es in ihrem Leben schwer haben. Während des Gottesdienstes müssen sie Choräle spielen, denen die Gemeinde meist schleppend hinterher hinkt. Bei Konzerten verschwinden sie auf der Empore und werden nicht mehr gesehen: Organisten, das sind zuweilen schräge Vögel – und zumeist auch Männer. Die Orgelszene jedoch hat nun ihren ersten wirklichen Star, und der ist weiblich: Iveta Apkalna aus Lettland holt die Orgelmusik aus ihrer Nische.

OMM: Sie suchen die Stücke immer präzise für die Orgeln aus, die sie vorfinden. Warum?

Apkalna: Das mache ich immer, gleich, wo ich hingehe. Sei es in Philharmonien, Kirchen oder manchmal an einem ganz anderen Ort, etwa in einer Musikschule, wo ich nur kleine Orgeln spiele: Ich wähle immer mein Repertoire nach dem Ort, an dem ich auftrete. Das ist prinzipiell der größte Unterschied zwischen Organisten und anderen Musikern. Organisten müssen auf Instrumenten spielen, die gut sind, schlecht oder verstimmt oder auf Orgeln, die beinahe auseinander fallen. Ich fühle mich da wie Alice im Wunderland. Man geht los, und weiß nicht, was als nächstes kommt. Und: ich wiederhole niemals das gleiche Programm. Ich wiederhole viele Stücke, aber nie in derselben Reihenfolge oder Dramaturgie. Das macht mein Leben viel, viel interessanter. Wenn ein großer Pianist ein wunderbares Solo-Programm einstudiert, kann er damit ein-, zwei Monate auf Tournee gehen. Als Organistin geht das nicht.

OMM: Sie sind eine Frau an der Orgel, und das ist ungewöhnlich. Wie viele Organistinnen gibt es in Lettland?

Apkalna: In Lettland sind es hauptsächlich Frauen, die an der Orgel sitzen, weil wir dort sehr starke Frauen haben. Wie in all den anderen baltischen und post-sowjetischen Ländern haben sie den schwersten Part im Leben. Angst haben die vor gar nichts mehr, deshalb können sie auch jede Rolle übernehmen. Meine Freunde in Deutschland wundern sich darüber. Frauen in Lettland können Flure streichen, tapezieren, sie reparieren Autos, die Kabel von Fernsehern und Radios.

OMM: Wie schaffen die das nur?

Apkalna: Nun, in Lettland kennt eben jeder seine Aufgabe. Wir halten schon sehr viel aus. Wenn ich mich in Deutschland umsehe, sind es vor allem Männer, die Orgel spielen. Als Studentin in Stuttgart war ich eine von drei oder vier Frauen unter etwa 50 Männern. Aber das ist in Ordnung, denn Orgelspielen ist schließlich physische und psychische Schwerstarbeit. Ich mag es, wenn es schwierig wird im Leben, wenn man um etwas Kämpfen muss, durch Feuer und Wasser geht und am Ende dann die Freude nach dem Erfolg sehr viel größer ist.

OMM: Oft treten Sie auch auf als Botschafterin der Orgelmusik ihrer Heimat Lettland. Wie sieht dort die Orgel-Szene aus? Wir haben dort eine tief greifende, ernsthafte Orgeltradition, weil es bislang immer sehr gute und populäre Organisten gab, die für Orgel geschrieben haben. Es gibt zwar noch viele Orgelstudenten auf der Musikakademie in Riga, sie haben aber wenig Zunkunftschancen, auch mit Diplom. Das ist nicht so wie hier in Deutschland. Leider haben wir auch nur wenig große, besondere „Events“, die mit Orgel verbunden sind. Natürlich gibt es die Konzerte im Dom zu Riga. Jeder weiß, dass wir dort das beste Instrument haben, das Beste in Europa, vielleicht auch weltweit. Jeder Tourist, der nach Riga kommt, hört sich zunächst die Orgel im Dom an.

OMM: Neben lettischer zeitgenössischer Musik ist Ihnen besonders die Musik Johann Sebastian Bachs wichtig.

Apkalna: Ich war ja nie nur an neuen, verrückten Sachen interessiert. Ich mag das „Retro“, den klassischen Stil, Antiquariatsshops, all die Dinge, die alt und dauerhaft sind. Ich sehe Bach als das tägliche Brot an. Man „isst“ es jeden Tag, und ich brauche es jeden Tag. Oft versuche ich, wenn ich Bach-Werke spiele, diese Stücke in die Mitte des Programms zu platzieren. Oft beginnt man ja Programme mit Bach, in chronologischer Reihenfolge. Doch in meiner Auffassung ist alles, was musikalisch existiert, schon von Bach erfunden worden. Natürlich gibt es viele verschiedene Arten, Musik zu präsentieren. Aber für mich ist Bach das größte Genie, größer als Mozart. Wenn man Bach liebt und versteht, kann man Musik an sich lieben und verstehen. Wer als Musiker sagt: „Ich mag keinen Bach“, dann glaube ich nicht, dass er ein Musiker ist. Bach ist das Anfang und das Ende, er ist alt, von Dauer, groß und bedeutend.

OMM: Wann sind sie mit der Orgel zum ersten Mal in Berührung gekommen?

Apkalna: Das war relativ spät. Ich kann nicht sagen: „Als ich vier Jahre alt war, habe ich Orgelmusik gehört, habe mich sofort in das Instrument verliebt und musste Organistin werden.“ Nein, das war nicht so, wie man es in Künstlerbiographien liest. Mit mir ging es langsamer, aber tiefer und besser. Mein erstes Konzert im Dom zu Riga habe ich gehört, als ich schon 15 Jahre alt war. Ich denke, das war recht spät. In Rezèkne, wo ich geboren wurde, hatten wir keine guten Kirchenorgeln und schon gar keine Orgelkonzerte. Das war noch zur Sowjetzeit, als ich Mitglied der Pioniere war. Kirche war da sowieso verboten. Aber ich hatte viele Platten zu Hause. Mein größter und wichtigster Moment in meiner musikalischen Karriere war, als ich Professor Dexnis auf der Rigaer Musikakademie begegnete. Er glaubte an mich schon, als ich es noch nicht tat, er sah eine Organistin in mir, bevor ich selbst eine war. Er drängte mich, es mit der Orgel zu versuchen, zum ersten Wettbewerb zu gehen, und ich hatte Erfolg. Schritt für Schritt habe ich meine Erfahrungen gemacht. Dann war es wie eine große Explosion: „Ja, ich will Organistin sein.“ Ich hatte Klavier gespielt, seitdem ich fünf war. Aber immer, wenn ich Orgel spiele, fühle mich wie ein Fisch im Wasser, es ist, als wenn ich schwimmen könnte. Und es spielt dabei keine Rolle, wie tief das Wasser ist oder wie kalt oder ob ich Haien begegne. Und ich begegne vielen in meinem Organistenleben! Doch das das ängstigt mich nicht, das gibt mir sogar noch Energie. Ich schwimme in einem großen Ozean.

OMM: Sie sind keine Kantorin geworden, keine Kirchenorganistin. Der Kontakt zum Publikum ist Ihnen wichtig?

Apkalna: Ich brauche diese physische Verbindung mit dem Publikum, und ich verstehe, wenn die Leute sagen: Wie wollen sehen, wer da spielt. Eine Stunde Orgelmusik in einer Kirche, das ist intellektuell sehr anspruchsvoll. Vielleicht gehen deshalb viele Menschen lieber in die Oper: Es gibt halt was zu sehen. Die Hälfte der Sinneseindrücke erhält man über die Augen. Ich möchte dem Publikum nicht die Möglichkeit vorenthalten, zu sehen, was Orgelspielen bedeutet. Ich mag zwar die mechanischen Spieltische der Kirchen lieber, weil sie schwer zu bedienen sind, man fühlt die Orgel selbst und wie Luft in die Pfeifen strömt. Das alles ist schön für mich, aber nicht gut für das Publikum. Aber wird sind ja schließlich abhängig von den Zuhörern, nicht von uns selber. Wenn Menschen von Klassik-Stars sprechen, denke ich: Mein Gott, was ist schon ein Star? Ich komme ganz zuletzt als Person, ich bin der letzte Teil der Kette, nach dem Komponisten, nach dem Veranstalter und nach dem Publikum. Natürlich braucht jeder eine Art Star, jemanden zum anschauen, zum hören und um jemanden um ein Autogramm zu bitten. Aber ich bin da nur so etwas wie eine Art Projektor.

OMM: Sie tragen auch ganz bestimmte, bequeme Schuhe, wenn Sie an der Orgel sitzen.

Apkalna: Ich habe zwei Paar im Moment, in Schwarz und in Silber, die ziehe ich an je nach Repertoire und Abendgarderobe. Schuhe geben den richtigen Komfort und Gefühl für die Pedale. Meine habe ich selbst entworfen. Lange und sehr, sehr ernsthaft habe ich darüber nachgedacht, wie ein Schuh aussehen und sich anschmiegen muss. Und dann bin ich mit diesen verrückten Ideen zu meinem Schumacher in Riga gegangen, der auch für die Oper und das Ballett arbeitet. Ich dachte: Wenn ich ihm jetzt sage was ich da entworfen habe, wird er denken: Was für ein Dummchen. Aber als es dann wirklich so weit war, schien das gar nicht so dumm zu sein. Er war sogar froh und sagte: „Eine wirklich gute Idee.“ Und er machte die Schuhe genauso wie ich sie wollte. Einfach perfekt.

OMM: Die Schuhe haben Ihnen scheinbar Glück gebracht. Auch Preise haben Sie schon einige gesammelt, wie etwa den „Grand Latvian Music Award“.

Apkalna: Das war ein schöner Augenblick für mich. Ich war sehr geehrt, weil es erst das zweite Mal war, dass ein Organist diesen Preis erhalten hat, der erste ging an meinen Lehrer. Noch größer und aufregender war aber der ECHO-Preis 2005. Es war der erste ECHO für Orgel überhaupt. Preise zu bekommen ist nett. Aber nach ein paar Monaten vergisst man das. Ich denke daran, wenn ich zu Hause übe und mein Preis steht da auf meiner Digital-Orgel, ein brandneues Instrument, das ich mit Kopfhörern spiele – wir haben ja auch Nachbarn. Und wenn ich etwas nicht bewältige, schaue ich den Preis an und sage mir: „Iveta, das muss Du hinkriegen. Da steht der Preis, den Du bekommen hast, weil Du gut bist. Und nun sitzt Du hier und kannst das nicht? Du musst einfach mehr üben!“ Der Preis erinnert mich daran, nicht die Form zu verlieren oder darüber zu klagen, dass etwas zu kompliziert ist. Nichts ist zu schwer.

OMM: Aber dennoch fordert sie der Organistenalltag, für den sie sich ja auch sportlich in Form halten.

Apkalna: Das ist es, was ich immer vermisse, wenn ich unterwegs bin, es gibt nicht immer die Möglichkeit dazu. Natürlich gibt es gute Hotels. Ich mag Teakwondo und besonders Aerobic, mit Musik. Alleine im Fitness-Studio auf einem Laufband joggen – das ist nichts für mich. Besonders schöne Momente erlebe ich, wenn ich in der Natur jogge, ohne Autolärm oder Musik. Kürzlich stand da plötzlich einfach ein Rehkitz vor mir. Ein herrlicher Augenblick, so was erlebt man in keinem Fitness-Studio.

OMM: Darf man darauf hinweisen? Sie werden am 30. November 2006 30 Jahre alt.

Apkalna: Ich schäme mich dafür nicht. In diesem Jahr sind schöne Jubiläen: von Mozart, von Schostakowitsch, von meinem Landsmann Peteris Vasks – und von Iveta Apkalna (lacht). Natürlich ist das ein Scherz. Zum Dreißigsten hatte ich ein Konzert mit dreißig Stücken geplant. Das wird sehr lang werden. (lacht wieder) Ich habe zwar keine Angst, alt zu werden, denke aber, dass ich viel mehr hätte machen können in meinen 30 Jahren. Ich war viel zu faul bisher. Die Leute denken, ich hätte etwas erreicht. Ich aber meine, das ist viel, viel zu wenig. Die Jugendzeit ist doch die produktivste. Später hat man vielleicht Kinder, Familie, es kommen Krankheiten, die Knochen tun weh. Ich glaube, ich habe Zeit verloren. Aber es war so, wie es war.


(April 2006)




Iveta Apkalna

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