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"Claude Debussy ist kein Impressionist!"

Nachdenken über Liszt und Debussy mit Christian Erny - anlässlich seines starken CD-Debuts

Christian Erny, ein 29 Jahre junger Pianist aus Winterthur dringt auf seiner Debut-CD tief in die Materie ein. In den Kompositionen von Franz Liszt und Claude Debussy eine gemeinsame Vision erkennen, diese selbst zu teilen und damit eine eigenen Stimme finden - dafür investierte der junge Schweizer viel Arbeit, die weit über das reine Spielen der Stücke hinaus reicht. In selbstverfassten, höchst lesenswerten Begleit-Booklet und noch mehr im Gespräch liefert er Argumente, warum.

Von Stefan Pieper


OMM: Wie sind Sie zu dieser Werkauswahl gekommen?

Erny: Ich wollte nicht einfach nur die Debussy-Préludes aufnehmen, weil das ja schon öfter gemacht wurde. Es ging mir darum, eine Botschaft einzubauen und alles von einem anderen Blinkwinkel her zu betrachten. Dabei führten bei mir zwei Wege zusammen. Das Eröffnungsstück "Sposalizio" von Franz Liszt habe ich schon sehr früh im Theorieunterricht meines Studiums kennen gelernt. Wir wurden damals gefragt, von wem das sein könnte. Ich war ziemlich überrascht, das der Verfasser Franz Liszt hieß. Ab diesem Punkt habe ich mich mit Franz Liszt beschäftigt. Mir erschloss sich, auf was für Wege Franz Liszt die Musikentwicklung gebracht hat.
Die Stücke, die meine CD eröffnen, sind zwar kein Spätwerk von Liszt, aber sie leiten definitiv einen neuen Charakter in Liszts Kompositionsweise ein. Das Virtuose ist nicht länger Selbstzweck, stattdessen wird die Musik stärker als etwas ganzheitliches wahrgenommen. Das sind überhaupt keine Showstücke mehr. Das dritte Liszt-Stück auf dieser CD mit dem Titel "Unstern" aus dem Spätwerk ist schon sehr atonal und tendiert in Richtung Schönberg, Webern und Bartok. Es ist unglaublich, in welch früher Zeit Franz Liszt schon so einen Vorausblick hatte.

OMM: Wie wurde die Brücke zu Debussy geschlagen?

Erny: Debussy führt gewissermaßen den Ansatz von Liszt weiter - und das will ich hier auf dieser CD demonstrieren. Ich habe mein Konzertexamen in Amerika gemacht. Mein Lehrer dort war ein Debussy-Spezialist, der mich circa ein ganzes Jahr lang durch den ersten Band der Préludes geführt hat. Dadurch erschloss sich mir viel Verbindendes zwischen Liszt und Debussy. Ich habe recherchiert, ob schon andere Aufnahmen diesen Aspekt beleuchten, und glaube, dass mein Debutalbum hier eine Lücke füllt. Ich sehe Claude Debussy übrigens viel mehr als Symbolist denn als Impressionist. Das Etikett des Impressionisten mochte Debussy selber gar nicht. Musik ist nicht einfach nur Ausdruck des unmittelbaren Erlebens. Die Tonsprache entwickelt vielmehr Symbole, um so etwas darzustellen. Aber eben deutlich anders als die Impressionisten: Musik ist hier nicht Momentaufnahme einer Realität, sondern etwas viel größeres, das tiefer geht.

OMM: Ist Ihnen solche eine Komplexität beim Spielen noch bewusst? Oder ist das tief im Unterbewusstsein drin?

Erny: Mich als Spieler fordert eine solche Musik universell heraus. Man muss erst tief verstehen, damit man zu einer Interpretation kommt. Beim Spielen ist das ein physischer Prozess. Ich muss aus den Noten herauslesen können, wie diese Aspekte gemeint sind, damit ich das klanglich auf dem Klavier umsetzen kann. Es ist also technisch, klanglich, interpretatorisch und intellektuell sehr anspruchsvoll. Je mehr man vorher begriffen hat, desto freier ist man im Spiel. Und ich entdecke immer wieder etwas neues, dass man spontan mal anders beleuchten kann.

OMM: Wie war der Aufnahmeprozess selbst? Arbeiten Sie bevorzugt in kleinen Abschnitten oder spielen Sie lieber im großen Bogen alles 'runter?

Erny: Es ist ganz unterschiedlich. Ich mache mir, bevor ich ins Studio gehe, meist schon ein Konzept, wie ich die unterschiedlichen Sachen jeweils aufnehme. Die meisten Stücke spiele ich etwa viermal durch und entscheide mich nach gründlichem Anhören für meine Lieblingsversion. Das ist das schöne im Studio! Man kann Abschnitt für Abschnitt im Detail ausarbeiten, kann reagieren, nochmal korrigieren und kommt dadurch noch tiefer hinein in die Musik. Es ist eine gute Übung, um selbstkritischer zu werden.

OMM: Wodurch wird ein Flügel zu Ihrem idealen Werkzeug?

Erny: Was mir sehr wichtig ist, dass er in allen Registern sehr ausgeglichen ist und alle klanglichen Möglichkeiten hat. Es sollte nicht irgend ein Bereich zu stark herausstechen. Ein guter Flügel hat einen Atem. Damit kann man physisch Resonanz erzeugen, also mit dem Anschlag die richtige Mischung an Obertönen erzeugen.

OMM: Sie schreiben in Ihrem Begleittext sehr viel von "koloristischen Harmonien". Was meinen Sie genau damit?

Erny: Koloristisch meint das Gegenteil von funktional. Schon bei Liszt sind harmonische Verläufe nicht mehr funktional. Die Harmonik hat also nicht mehr den Anspruch, den Spieler oder Hörer mit seinem System zu führen. Es gibt stattdessen abrupte Veränderungen, die wieder andere Obertöne erzeugen. Stattdessen sollen unmittelbare Farben entstehen und die Harmonie selber beginnt zu sprechen.

OMM: Sehen Sie die Innovationen von Liszt und Debussy als Befreiungsschlag aus akademischen Eingrenzungen? Fasziniert Sie dieser Aspekt?

Erny: Ja klar! Debussy war am Konservatorium recht unbeliebt, weil er Konventionen ablehnte. Er wollte genau in die andere Richtung. Das konnte er aber nur so gut, weil er die akademische Harmonielehre zuvor extrem gut verstanden hatte.
Ich vergleiche gerne zwischen Debussy und Schönberg, die beide die Musik erneuert haben. Hier verstehen zwei Leute ganz genau, aus welcher Tradition heraus ihre Musik gewachsen ist, um dann auf ganz verschiedenen neuen Wegen mit der Tradition zu brechen. Und 50 Jahre vorher hat Franz Liszt solche Umbrüche schon auf visionäre Weise eingeläutet.

OMM: Revolutionär war ja auch Debussys Weltoffenheit für außereuropäische (Musik-)Kulturen! Welche Details faszinieren Sie in dieser Hinsicht bei den Préludes?

Erny: Zum ersten Mal blickt ein europäischer Komponist nach Asien. Debussy hörte das indonesische Gamelan-Ensemble auf der Weltausstellung, öffnete sich für japanische Kunst, für orientalische Klänge, für Ragtime, Boogie-Boogie und Flamenco. Das ist alles drin in den Préludes. Solche Inspirationsquellen interessierte Debussy viel mehr als die impressionistischen Maler wie etwa Claude Monet. "La Sérénade Interrompue" ist eine Flamenco-Musik. Das Stück "Minstrels" ganz klar ein Ragtime.

OMM: Eines meiner Lieblingsstücke ist "La cathédrale engloutié". Was hat es damit auf sich?

Erny: Ich empfinde es als das Programmatischste aller Préludes. Es basiert auf einer keltischen Legende von einer versunkenen Stadt. Debussy macht daraus eine Kathedrale unter Wasser und schafft es, dass man hörend sehen kann. Kirchenglocken läuten. Danach produzieren parallele Akkordverschiebungen eine Schwingung, das man den Klang der Glocken durch diese Wellen hindurch hört. Schließlich dröhnt ein hymnischer Choral durch das Meer, dass man wieder diese Kathedrale imaginiert. Bewegung und räumliche Distanz sind physisch wahrnehmbar. All das ist so viel mehr als nur ein atmosphärischer Kommentar. Man muss als Spieler all diese Ebenen abdecken können, damit eine echte Tiefenwirkung entsteht.

OMM: Haben Sie beim Spielen solche Bilder konkret im Kopf?

Erny: Bei den Debussy-Préludes eigentlich schon. Ich imaginiere gerne konkrete Farben beim Spielen. Bei den Ganztonleiter im Stück Voiles sind es eher Schwingungen. Manchmal habe ich auch eine Geschichte vor Augen. Beim "Tanz von Puck" im Sommernachtstraum kann ich mir diesen Gnom wirklich sehr gut vorstellen. Es ist für mich auf jeden Fall eine sehr imaginäre Musik.

OMM: Was sind Ihre persönliche Inspirationsquellen? Was gibt Ihrer eigenen Kreativität Nahrung?

Erny: Ich höre mir wahnsinnig viel Musik an. Ich habe auch Pianisten-Vorbilder und bin ständig daran interessiert, andere Aufnahmen zu hören und zu fragen, was andere machen. Daraus lernt man sehr viel. Ich kenne Musiker-Kollegen, die sagen, dass sie persönlich keine Musik mehr hören. Das kann ich überhaupt nicht nachvollziehen. Musik "konsumieren" ist für mich genauso wichtig wie selber spielen.

OMM: Sie sind ja nicht nur Pianist, sondern auch Dirigent!

Erny: Das Dirigieren ist eine sehr starke Ergänzung. Beim Dirigieren bin ich darauf angewiesen, dass man die Partitur in und auswendig kennt und innerlich hören kann, was man haben will. Es ist fürs Klavierspielen eine sehr große Hilfe, dass man als Dirigent sein Gehör extrem schärfen muss. Das Klavier wird ja erst zu einem interessanten Instrument, wenn man verschiedene Schichten unterschiedlich färben kann. Also dass man orchestrale Effekte hinbekommt. Und eben nicht mehr passiv mit dem Ohr ist.

OMM: Was war sonst noch biografisch wichtig?

Erny: Ich hatte einen frühen Musikunterricht an einer guten Schule. Aber ich war überhaupt kein typisches Wunderkind, hatte aber von Anfang an eine sehr breite Ausbildung. Ich durfte Klavier spielen und singen und habe in meiner Jugend sehr viel Pop und Rockmusik gemacht, was noch viel mehr Gewicht als die Klassik hatte. Ich war Gitarrist, Sänger, habe viel für die Band komponiert. Ich wollte immer Musiker werden, nicht speziell Pianist!

OMM: Das klingt sehr open minded!

Erny: Absolut. Und ich war nie getrimmt darauf, ständig auf Wettbewerbe zu gehen. Das hat mich nie interessiert. Ich habe nach dem Abitur mit dem Klavierstudium begonnen. Dabei kam ein immer stärkerer Wunsch auf, vorwärts zu kommen. Ich habe mir selber eine Konzerttätigkeit aufgebaut, Konzerte organisiert. Ich war schon immer ein Do-it-yourself-Typ.


(November 2017)




Foto

Christian Erny (Foto © Kaupo Kikkas)


Christian Erny, 1988 in Winterthur geboren, wurde bereits mit sechs Jahren Schüler am dortigen Konservatorium. Später studierte er bei Hans-Jürg Strub an der Züricher Universtität der Künste, wo er einen Master in Klavier und Musikpädagogik erwarb. Die Konzertreife erlangte er bei Jean-Louis Haguenauer an der Jacobs School of Music in Bloomington. Später hat er weitere Studien an der Bergen Music Academy betrieben. Christian Ernys künstlerisches Spektrum ist sehr weitgespannt. In früheren Jahren war er auch viel als Gitarrist und Songwriter in Rock- und Popbands aktiv. Vielbeachtet war ein Projekt mit der Sopranistin Martina Küng und dem Schauspieler Elias Reichert zum Thema Charles Ives. Er ist außerdem ein leidenschaftlicher Dirigent. Unter anderem leitet er das Ensemble The Zurich Chamber Singers und ist Assistent beim Kammerchor Konservatorium Winterthur.



zu unserer Rezension der CD







Da capo al Fine

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