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Innenansichten eines Komponisten

Pierre Boulez' Vorlesungen am Pariser Collège de France endlich in deutscher Übersetzung erhältlich

Von Silke Gömann
März 2001



Das lange Warten hat ein Ende! Vorbei die Zeit, als man manchmal frustriert mit einem französisch-deutschen Wörterbuch in der Hand über den Originaltexten von Pierre Boulez brütete und die deutschen Musikverlage zum Teufel wünschte, weil sie noch nicht auf die Idee gekommen waren, endlich eine Übersetzung der Boulez-Vorträge am Collège de France (1976-1995) anzubieten.

Im Jahr 2000 zum 75. Geburtstag des geschätzten französischen Komponisten und Dirigenten legten der Bärenreiter-Verlag und der Verlag Metzler nun endlich die 1989 von Jean-Jacques Nattiez unter dem Titel Jalons (pour une décennie) zusammengestellten Boulez-Texte auch in einer sehr gelungenen deutschen Übersetzung von Josef Häusler vor.

Die überwiegende Zielgruppe der Veröffentlichung, Musik- und Musikwissenschaftsstudierende sowie Kenner der zeitgenössischen Musik, hätte der einschränkenden Lesehinweise des Übersetzers sicher nicht bedurft, doch wollte man den musikinteressierten Leser wohl nicht abschrecken. Und so kann man dann im Vorwort die mahnenden Ausführungen lesen, dass das vorliegende Buch nicht "zur raschen und bequemen Lektüre" geeignet sei und ein "gewisses Maß an musikalischer Allgemeinbildung, an Vertrautheit mit der Musik des 20. Jahrhunderts und ihrer Geschichte" voraussetze.
Sicherlich, dem Experten eröffnen sich ganz andere, spannende Vergleichsmöglichkeiten und Erkenntnisse während der Lektüre, vor allem wer sich im kompositorischen Oeuvre von Boulez und dessen Chronologie gut auskennt. Doch auch der Musikliebhaber bekommt eine Fülle von Informationen aus erster Hand über die Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert, natürlich aus der subjektiven Perspektive des Dirigenten und Komponisten Boulez. Gerade diese persönliche Sichtweise auf die unterschiedlichen Kompositionsrichtungen, Kontroversen und Komponisten der "Moderne" ist faszinierend, beinhaltet sie doch auch Revisionen von Boulez eigener Kompositionspraxis.

Ungeheuer spannend sind Boulez Ausführungen über die musikalische Form, den Themenbegriff und die Inspiration. Wann hat man schon einmal die Gelegenheit von einem Komponisten ganz offen etwas über dessen Arbeitsweisen, über das "Herstellen" von Musikwerken zu erfahren, ohne dass der Begriff des "Schöpfertums" gänzlich entmystifiziert erscheint.
Denn eins wird in den Texten sehr deutlich: Boulez unterscheidet streng, manchmal rigoros zwischen "guter" und "schlechter" Musik. Seine Ausführungen über die einzelnen Lebens- und Lernphasen eines Komponisten, seine Verwendung der Begriffe 'Talent', 'Genie', 'Epigonalität' sind immer wertend und verweisen in ihrer kunstästhetischen Haltung auf das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert. Doch die Lektüre wird nie zum Ärgernis, statt dessen wird man angeregt, seine eigenen vorgefassten Meinungen zur zeitgenössischen Musik und über die Komponisten des 20. Jahrhunderts zu reflektieren und die besprochenen Werke nochmals zu studieren.

Fazit: Bloß nicht abschrecken lassen vom Vorwort, statt dessen unbedingt kaufen und in Ruhe immer wieder lesen. Ob in Auszügen, von hinten nach vorne oder umgekehrt bleibt jedem Leser und jeder Leserin selbst überlassen.




Cover


Pierre Boulez:
Leitlinien - Gedankengänge eines Komponisten.
Aus dem Französischen von Josef Häusler.
Stuttgart, Weimar: Verlag J.B.Metzler
Kassel: Bärenreiter-Verlag 2000.
Gebunden, 450 Seiten, 58 DM.
ISBN 3-476-01805-9 (Metzler)
ISBN 3-7618-2009-7 (Bärenreiter)



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