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VIVA LA DIVA


Bereits im letzten Jahr erschien Nelly Miricioius "Rossini Gala" bei der für ihre wichtigen Veröffentlichungen seltener Werke vor allem des Belcanto nicht genug zu rühmenden englischen Firma Opera Rara, und nach dem Anhören der mit ihren fast 78 Minuten prall gefüllten CD kann man Produzent Patric Schmid nur recht geben, der in seinen Einleitungsworten von einem "Rossini-Fest" spricht, bei dem die Sopranistin gleichsam als Gastgeberin fungiert. Denn wir haben es hier nicht mit einem gewöhnlichen Sängerrecital zu tun, bei dem wahllos zurechtgestückelte Bravourarien aneinandergereiht werden, sondern mit neun für das ungemein vielseitige Werk Rossinis charakteristischen Szenen. Nelly Miricioiu ist von Stimmlage und Temperament her natürlich ideal für all diese Partien, die Rossini für seine Gattin Isabella Colbran komponiert hatte: Sie verfügt zum einen über die unerlässlichen technischen Möglichkeiten, verzierte Musik mit der angemessenen Präzision auszuführen, zum anderen aber - und dies halte ich für keinen Deut weniger wichtig! - über die Fähigkeit eines dramatisch-expressiven Singens, ohne dass diese opere serie blutleer und langweilig wirken können. Und sie bleibt ihrem Credo treu, dass Belcanto eben nicht nur die Produktion schöner Töne oder gar das Abliefern möglichst spektakulärer dreigestrichener Acuti bedeutet, sondern genauso von dem gesungenen Text lebt wie andere Opern auch - man merkt, wie sie sich mit jedem einzelnen Wort auseinandergesetzt, wie sie sich mit der Psychologie einer jeden Figur intensiv beschäftigt, ja sich in das Schicksal dieser Frauen geradezu versenkt, nach den jeweils ausdrucksstärksten Farben in ihrer mitunter ein wenig an das Timbre der Callas erinnernden Stimme gesucht und dabei auch einige weniger schöne, mitunter auch riskante, aber immer das Herz des Rezensenten treffende Töne gefunden hat.

Bereits in der majestätischen, von der Rumänin mit vielen schönen, aber nie eitlen Pianoeffekten ausgestatteten Auftrittsszene aus Elisabetta regina d'Inghilterra, die Rossini mit wenigen Änderungen für Rosinas "Una voce poco fa" erneut benutzte, staunt man angesichts der ungeheuren Präsenz der Sopranistin, man sieht sie geradezu vor sich in einem kiloschweren historischen Kostüm, und man bewundert, wie sie die mitunter aberwitzigen Verzierungen ausschließlich ihrem Ausdruckswillen unterordnet. Das Duett Zenobia - Arsace aus der frühen Oper Aureliano in Palmira ist ein Beispiel für den eher zarten, melancholischen Rossini, der der Bellini-erfahrenen Sängerin natürlich auch glänzend in der Stimme liegt. Einmal mehr fällt auf, wie sie bereits in den ersten Sekunden die Stimmung und den dramatischen Gehalt einer Szene präzis einzufangen versteht. Das anschließende kanonartige Quartett aus dem wenig erfolgreichen Werk Bianca e Falliero ist ein exzellentes Beispiel für Rossinis mitreißende Crescendi und besticht durch die Emphase und das überspringende Temperament der Miricioiu, das auch den ausgedehnt-brillanten Rouladen im Finalrondo aus Zelmira gut ansteht, während das schlicht gehaltene Kanonquartett aus Mosè in Egitto von der Fähigkeit der Sopranistin (und ihrer Mitstreiter) zu verinnerlicht-leisen Tönen profitiert.

Wie verführerisch ihre Stimme klingen kann, beweist Miricioiu im hinreißend ausgezierten Duettino mit Rinaldo aus Armida (das mit der schönen Solocello-Einleitung). Wie schon bei der Amsterdamer Aufführung 1988 ist Bruce Ford ihr stilsicherer Partner. An die dramatischen Entladungen ihrer Norma-Interpretation gemahnt dagegen das furiose Racheduett aus Semiramide, bei dem Alastair Miles sich als exzellenter Koloraturbass in Erinnerung ruft (Nelly Miricioiu hat die Partie im Amsterdamer Concertgebouw, in der Londoner Queen Elizabeth Hall und auch an der Genfer Oper gesungen, der entsprechende Mitschnitt ist lange angekündigt, aber wohl immer noch nicht erschienen), aber auch das Finale des Mosè, bei dem sie geradezu entfesselt und gleichermaßen zu Herzen gehend Elcìas Kummer über den Verlust des Osiride in hinreißende Töne fasst.

Beschlossen wird die CD mit dem wirklich seltenen Finale aus Vallace, bei dem es sich eigentlich um eine italienische Alternativversion für Guillaume Tell handelt, die mit einer gesungenen Fassung des berühmten pas redoublé aus der bekannten Ouvertüre endet. Nicht nur in diesem Ausschnitt wird die Miricioiu von kompetenten Kolleginnen und Kollegen unterstützt, unter denen - neben den bereits erwähnten - natürlich die talentierte Albanerin Enkelejda Shkosa mit ihrem flinken, individuell gefärbten und vielleicht gerade deshalb glänzend zum Timbre der Kollegin passenden Mezzo, der agile Tenor Barry Banks und der engagierte Bariton Garry Magee herausragen. Aber auch Patrizia Bicciré, Antonia Sotgiù, Simon Bailey, Dean Robinson und der bewährte Geoffrey Mitchell Choir tragen zum Gelingen dieser Einspielung bei, die David Parry am Pult der Academy of St Martin in the Fields mit sicherer, erfahrener, aber mitunter auch etwas schwerer Hand dirigiert.

Nicht vergessen werden darf das 116 Seiten starke Booklet, das ausführliche, kluge Werkkommentare von Jeremy Commons, Produktionsphotos und ein Interview enthält, das George Hall mit der Protagonistin führte, die in Amsterdam und bei den Salzburger Festspielen auch die Amenaide in Tancredi und in Brüssel Ermione gesungen und für Opera Rara Rossinis Ricciardo e Zoraide eingespielt hat. Dass sie daneben auch viele Partien von Verdi und Puccini singt (ich halte sie für eine der besten Tosca-Interpretinnen unserer Zeit) und auch diverse Verismo-Rollen im Repertoire hat, mag die Vielseitigkeit dieser Ausnahmekünstlerin belegen.

Fast noch besser gefällt mir das in diesem Jahr herausgegebene Album Bel Canto Portrait, was daran liegen mag, dass mir persönlich Donizetti näher steht als Rossini. Doch echte Belcanto-Fans dürften vor allem die beiden anderen der allesamt aus den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts stammenden Szenen entzücken - also "dem Jahrzehnt der italienischen Oper, in dem die vielleicht schönste Musik der Romantik entstand", wie Patric Schmid in seinen Einleitungsworten in dem erneut nicht genug zu lobenden Booklet schreibt (auch wenn es einen Patzer bei der Trackzählung gibt!), in dem Donizetti und Bellini auf dem Gipfel ihrer Schaffenskraft standen, angespornt durch die Konkurrenz Mercadantes, Pacinis, Vaccais und anderer Komponisten, deren Namen wir längst vergessen haben. Zu den in diesem Jahrzehnt geschriebenen großartigen Schlussszenen für die legendären Primadonnen der Zeit gehören auch diejenigen von Mercadantes Emma d'Antiochia, die Giuditta Pasta bei der Uraufführung sang, und die der Pamira, die Sir Michael Costa 1834 als showpiece für Giulia Grisi geschrieben hatte, die in der Premiere von Rossinis L'assedio di Corinto in London debütierte.

Dass sich Mercadantes Oper nicht recht durchsetzen konnte, mag an dem wirklich abenteuerlichen Libretto und an der Indisposition der Primadonna bei der ersten Aufführung liegen, die zu erheblichen Kürzungen gerade innerhalb des hier vorgestellten, hinreißenden, ausgedehnt-komplizierten Finale führte, das nicht zuletzt ein wunderbares Duett für zwei Frauenstimmen enthält und ein Musterbeispiel für einen durchdachten, abwechslungsreichen Szenenaufbau ist. Mit welcher Verve, welcher Ausdrucksintensität und welchem Farbenreichtum, mit welcher Furchtlosigkeit auch die Miricioiu diese Szene zum Leben erweckt, das entzieht sich eigentlich jeder kleinlichen Beschreibung.

Der 1810 in Neapel geborene Michele Costa war eine wichtige Figur im Londoner Opernleben der Mitte des 19. Jahrhunderts, was nicht zuletzt der Umstand belegt, dass er 1869 in den Adelsstand erhoben wurde. Die von ihm verfasste Szene muss sich kein bisschen hinter den Kreationen seiner prominenten Kollegen verstecken, sie ist im Gegenteil ein Musterbeispiel für einen gleichermaßen souveränen wie freien Umgang mit den Formen seiner Zeit, wobei seine Meisterschaft hinsichtlich der Harmonien und der Orchestrierung besondere Erwähnung verdienen. Die Sopranistin verströmt sich geradezu in dieser großen Szene, die Pamiras Konflikt zwischen Liebe und Pflicht thematisiert, und beweist, welches Gespür sie gerade für Phrasierungsfragen und stilsicheren Legatogesang besitzt.

In etwas bekanntere Gefilde führen die beiden Donizetti-Szenen, denen der zweite Teil dieser habenswerten CD gewidmet ist: Belcanto-Liebhabern dürfte das Belisario-Finale zumindest aus dem Mitschnitt mit der sehr reifen, mit bescheideneren Mitteln als die Rumänin ausgestatteten, aber gleichfalls stets expressiven Leyla Gencer bekannt sein. Nelly Miricioiu bewältigt die langen, feingesponnenen Phrasen mit berückender Tonschönheit, dem schon mehrfach hervorgehobenen untrüglichen Sinn für die Tiefenschichten des Textes und einem Höchstmaß an Rollenidentifikation, und auch in der sehr lyrischen, zarten, ja elegischen Szene der verzweifelten Parisina aus der gleichnamigen Oper schwelgt man geradezu in der berühmten Fülle des Wohllauts, die der seit vielen Jahren in England lebenden Sopranistin aber eben nicht zum Selbstzweck gerät wie Montserrat Caballé in dem zum Vergleich gehörten Mitschnitt aus dem Jahre 1974. Mehr als Stichwortgeber sind Mary Plazas, Alice Coote, Fiona James, Ashley Holland, Ildebrando D'Arcangelo, Dominic Natoli und Roland Wood bei dieser hörbar sorgfältig vorbereiteten Studioeinspielung, deren weitere Mitwirkende der stets verlässliche Geoffrey Mitchell Choir, das Philharmonia Orchestra, das London Philharmonic Orchestra (nur in dem Belisario-Ausschnitt) und der wie stets gediegene Qualität garantierende David Parry sind. Und so bleibt die Hoffnung, dass spätestens durch diese beiden CDs (vielleicht auch durch ihren Auftritt als Norma in einer konzertanten Aufführung während des Schleswig-Holstein Musikfestivals am 25. August) Nelly Miricioius einzigartige Stellung im Bereich der Belcanto-Oper endlich auch in Deutschland von einem breiteren Publikum zur Kenntnis genommen wird - in Großbritannien, Italien und besonders in den Niederlanden ist sie zurecht längst ein Star, wie der Rezensent von Besuchen der konzertanten Aufführung von Zandonais Francesca da Rimini im Amsterdamer Concertgebouw oder des Respighi-Liederabendes in Rotterdam (beides im November 2000) weiß.


Von Thomas Tillmann





Cover

Nelly Miricioiu
Rossini Gala

Szenen aus Aureliano in Palmira,
Semiramide, Bianca e Falliero,
Armida, Zelmira, Mosè in Egitto,
Vallace, Elisabetta regina d'Inghilterra
Enkelejda Shkosa, Bruce Ford,
Garry Magee, Barry Banks,
Alastair Miles, Patrizia Bicciré,
Dean Robinson, Dominic Natoli,
Antonia Sotgiù, Simon Bailey

Geoffrey Mitchell Choir
Academy of St Martin in the Fields
Dirigent: David Parry

Aufnahme:
Henry Wood Hall, London, Juli 1999

Bestellnummer: ORR 211
Firma: Opera Rara, London




Cover


Nelly Miricioiu
Bel Canto Portrait

Scenes from Emma d'Antiochia,
L'assedio di Corinto, Belisario, Parisina,
Mary Plazas, Ashley Holland,
Ildebrando d'Arcangelo, Alice Coote,
Dominic Natoli, Roland Wood,
Fiona Janes

Geoffrey Mitchell Choir
Philharmonia Orchestra
London Philharmonic Orchestra
Dirigent: David Parry

Aufnahme: Henry Wood Hall, London,
Frühjahr 1996 bis November 2000

Bestellnummer: ORR 217
Firma: Opera Rara, London





Da capo al Fine

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