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Das Mädchen mit den Schwefelhölzern

Musik mit Bildern von Helmut Lachenmann


Keine Angst vor Lachemann

Von Christoph Wurzel


Für ein Werk des zeitgenössischen Musiktheaters kann Helmut Lachemanns Das Mädchen mit den Schwefelhölzern bisher beispiellose Erfolge verbuchen. Nach der Uraufführung in Hamburg im Januar 1997 wurde das Werk im Herbst 2001 durch das Ensemble der Stuttgarter Staatsoper zum zweiten Mal auf einer Bühne realisiert und vor ausverkauften Häusern zweimal in Paris und siebenmal in Stuttgart gezeigt (vgl. unsere Rezension vom Oktober 2001). In einer konzertanten Aufführungsserie des SWR -Sinfonieorchesters unter Sylvain Cambreling war es jüngst bei den Salzburger Festspielen und danach u.a. in Frankfurt zu erleben. Ein ungemein schwierig zu realisierendes Werk - aber nichtsdestoweniger auf einem nicht aufzuhaltenden Siegeszug. Die Stuttgarter Produktion ist nun als CD-Mitschnitt auf den Markt gekommen und gibt Gelegenheit, das Werk in Ruhe auf sich wirken zu lassen und ausführlich zu studieren.

Als "Musik mit Bildern" ist Das Mädchen mit den Schwefelhölzern konzipiert. Eine eigentliche szenische Handlung liegt dem Werk nicht zu Grunde, eher eine poetische Idee, die in der Stuttgarter Produktion durch Bilder und pantomimische Aktion auf der Bühne unterstützt wurde. Und manche Kritiker hielten die Bilder denn auch für entbehrlich oder meinten gar, dass sie die Sensitivität der Musik unterdrückten. Ist man nun beim Anhören der CD "nur" auf die akustische Seite verwiesen, so wirkt des Fehlen der Bilder durchaus nicht als Verlust an Verständlichkeit - im Gegenteil: Es ermöglicht dem Hörer, die eigenen Bilder in seinem Kopf entstehen zu lassen. Hört man die Scheiben noch per Kopfhörer, so wird man in einer beeindruckenden Intensität mit in diese unerhörten und spannenden akustischen Ereignisse hineingenommen, was im Theater in diesem Maße gar nicht erlebbar war, war man dort doch vielfach abgelenkt durch die spektakulär neuen Präsentationsformen auf der Bühne ebenso wie im Orchestergraben. Dieses Kunstwerk scheint also paradoxerweise im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit nicht an Aura zu verlieren, sondern es gewinnt in höheren Maß davon. Das hat mit den extrem subjektiven und von keiner Vorerfahrung geprägten Hörerlebnissen zu tun, die Lachenmanns Klangwelten dem Hörer ermöglichen.

Freilich wäre eine musikologische Analyse des Werks dem Verständnis dienlich, und schade ist es, dass die entsprechenden Texte aus dem Stuttgarter Programmheft im Booklet der CD - Produktion nicht enthalten sind, aber auch ohne dies sind die elementaren Formen der Klänge, wie sie Lachenmann verwendet, so unmittelbar erfahrbar und spürbar, dass sich deren "Sinn" beim Hören unvermittelt erschließt und dem Hörer darüber hinaus eigene Assoziationen erlauben.

Lachenmann bedient sich bei der Erzeugung von Klängen sehr vielfältiger Mittel. Da sind zuerst einmal die von Menschen hergestellten Töne und Geräusche - angefangen bei den vokalen (Rezitation und Gesang) über die gutturalen (Schnalzen), dentalen (Zischen) und labialen ( Pfeifen) bis zu den manuellen (Händereiben) und korporalen (an den Kleidern entlang streichen); dann diejenigen, die durch Instrumente erzeugt werden: auf konventionelle Art (Blasen, Tasten anschlagen usw) oder auch unkonventionelle Art (mit dem Bogen am Becken streichen, auf der Trommel mit dem Besen rühren, auf dem Klavierdeckel klopfen usw); ferner die elektronisch erzeugten Klänge (z. B. Verfremdungen durch Verzerrung) oder die per Tonband eingespielten Realitätspartikel. Schließlich werden meteorologische Geräusche (Wind, Wellen) verwendet.

Diese organische Verbindung von "klanglichen Naturereignissen" (Lachenmann) mit hochartifiziellen Klängen verleiht dem Werk seinen akustisch überwältigenden Reiz. Diese Klänge verbinden sich mit der philosophischen Idee, die dem Libretto des Werkes innewohnt, zu einer gemeinsamen Bedeutungsstruktur. Dies wird symbolisiert im Höhepunkt der Handlung, wenn mit einem prägnant auskomponierten "ZISCH" das Mädchen ein Streichholz anzündet, was den Moment seiner Selbst-Bewusstwerdung und des Verlassens seiner Ohnmacht in der kalten, feindlichen Winternacht markiert. Lachenmann war seit seiner Kindheit mit Gudrun Ensslin bekannt. In seinem Werk setzt er die Geschichte des verarmt und einsam strebenden Mädchens, das sich, um sich zu wärmen, als letzte eigenmächtige Tat ein Streichholz anzündet, welches es eigentlich verkaufen sollte, mit der radikalen Gesellschaftskritik des RAF-Mitglieds Ensslin in Beziehung, die an einer Kaufhausbrandstiftung beteiligt war. Bedauerlich allerdings, dass die Texte von Gudrun Ensslin, auf die Lachenmanns Libretto sich stützt, nur sehr verkürzt im Booklet enthalten sind.

Die Güte der Realisation des Werks in der CD - Einspielung ist über jeden Einwand erhaben und es sei im Einzelnen auf die oben erwähnte Rezension der Stuttgarter Aufführung (mit identischer Besetzung) verwiesen. Der Klang der CD ist hervorragend und - wie bereits bemerkt - über den Kopfhörer unmittelbarer erfahrbar als im Theater. Das Booklet enthält das Notwendige: das Libretto des Werks, einen Essay von Helmut Lachenmann zu seinem Werk sowie ein Gespräch zwischen ihm, Klaus Zehelein und Hans Thomalla, beide an der Stuttgarter Produktion beteiligt.

Diese Edition ist eine Großtat des Labels KAIROS, wo schon mehrere andere Werke Lachenmanns verlegt wurden. Mit vollem Recht wurde diese Einspielung jüngst zur "CD des Jahres" gekürt. Wer bereit ist sich darauf einzulassen, wird eine reiche Welt von Klangerlebnissen entdecken. Also: Keine Angst vor Lachenmann! Diese CD gehört in die Sammlung jeder/s aufgeschlossenen Musikfreundin/ freundes.


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Cover

Helmut Lachemann
Das Mädchen mit den Schwefelhölzern

1. Solo - Sopran - Elizabeth Keusch
2. Solo - Sopran - Sarah Leonard
Sprecherin - Salome Kammer
Schauspielerin - Mélanie Fouché
Sho - Spielerin - Mayumi Miyata
Solo - Pianistin - Yukiko Sugawara
Solo - Pianistin - Tomoko Hemmi
Staatsopernchor Stuttgart
Einstudierung: Michael Alber

Staatsorchester Stuttgart

Dirigent: Lothar Zagrosek

Aufnahme: 5.- 8.7.2001,
Staatsoper Stuttgart

KAIROS 0012282KAI (2CDs)



Da capo al Fine
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