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Musiktheater
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Thais

Comédie lyrique in drei Akten
und sieben Szenen
Libretto von Louis Gallet
Musik von Jules Massenet


In französischer Sprache



Überflüssige Massenet-Neuerscheinung

Von Thomas Tillmann


Das für Massenet so typische Aufeinandertreffen von Spiritualität und Sinnlichkeit, von Sünde und Normalität bestimmt auch Thais, in deren Mittelpunkt zwei Personen stehen, "die sich auf eine Reise begeben - Thais von ihrem Leben in Sünde zur Seligkeit, der Mönch Athanael von der Askese zur Anerkennung des Fleisches ... Sie bewegen sich diagonal in entgegengesetzten Richtungen wie Linien auf einem Blatt Millimeterpapier, treffen nur kurz in der Mitte aufeinander, setzen ihre getrennten Wege fort und enden schließlich so weit voneinander entfernt wie am Beginn" (Rodney Milnes).

Inspiriert ist das Werk vom Leben der Tiade, einer in Alexandrien im vierten Jahrhundert nach Christus lebenden Schauspielerin und Kurtisane: Die für ihre Schönheit und Zügellosigkeit berühmte Frau war von dem Zönobiten Pafnuzio überredet worden, den irdischen Genüssen zu entsagen und sich in das Kloster Antinoe zurückzuziehen, wo sie nach einiger Zeit gestorben war. Taide wurde von der katholischen Kirche heilig gesprochen, und das ganze Mittelalter hindurch war ihr Leben häufig Anregung für Legendenerzählungen. Auf der Grundlage des Romans von Anatole France verfasste Louis Gallet das Textbuch, das als erstes Prosalibretto in die Geschichte des französischen Musiktheaters eingegangen ist. Die Entstehungsgeschichte der Oper, deren erste Fassung am 16. März 1894 in der Pariser Opéra gegeben wurde, die aber eigentlich erst in der am 13. April 1898 uraufgeführten zweiten Fassung zum Erfolg wurde, für die Massenet die Oasenszene hinzugefügt, ein neues Ballett geschrieben und den überladenen Schluss abgemildert hatte, ist eng verbunden mit der amerikanischen Sängerin Sybil Sanderson (einige Jahre zuvor hatte sie bereits Esclarmonde zum Erfolg geführt und an der Opéra-Comique mehr als hundert Mal die Titelpartie der Manon interpretiert), deren außergewöhnliche Stimme drei Oktaven umfasst und die Spitzentöne mit größter Leichtigkeit produziert haben soll und die zudem eine Frau von ungewöhnlicher Attraktivität gewesen sein muss (Massenet war bald ihr Geliebter geworden). Und so war Thais von Anfang an eine "skandalumwitterte Oper, was immer verhindert hat, daß sie insgesamt ernst genommen wurde" (Rodney Milnes), ein Schicksal, das dieses Werk mit vielen anderen französischen Opern teilt, zumal dabei bei vielen Kennern die Vorstellung mitschwingt, populäre Musik könne keine gute Musik sein; der bereits erwähnte Milnes weist in seinem Beitrag zu der wohl im Jahre 2000 erschienenen Decca-Aufnahme freilich darauf hin, dass es sich um "eine von Massenets psychologisch eindringlichsten und subtilst komponierten Opern" handelt.

Die vorliegende Aufnahme indes scheitert letztlich daran, dass die Besetzung weder in musikalischer noch in sprachlich-stilistischer Hinsicht wirklich überzeugen kann. Eva Mei hat als Thais zwar einige berührende Momente (etwa wenn sie Athanael darum bittet, ihre Eros-Statuette behalten zu dürfen) und einige wunderbar schwebende, schlichte Töne im "O messager de Dieu", wie die wirklich sehr lyrische Stimme überhaupt im Piano am schönsten klingt, wenn sie sich einmal unforciert entfalten kann, aber ein Vergleich mit anderen Interpretinnen der Titelpartie zeigt (ich hörte den bedeutenden Querschnitt mit Jacqueline Brumaire und Michel Dens aus dem Jahre 1964 und Ausschnitte der Gesamtaufnahme mit Renée Fleming und dem allgegenwärtigen Thomas Hampson sowie einzelne Szenen mit Yvonne Gall und Maria Jeritza, die für ihre Wagner-, Strauss- und Puccini-Interpretationen berühmt war!), wie viel farben- und nuancenreicher diese Musik klingen kann. Bei der Italienerin dominiert ein flackernd-unruhiger, vibratöser und merkwürdig ältlicher Ton, die Stimme wird im Forte unangenehm scharf und hart (gerade im Duett mit Athanael vor ihrer Wandlung während der berühmten "méditation religieuse" dominiert die pure vokale Not, die man nicht mit Expressivität und großer Kunst verwechseln darf!), die Tiefe ist über Gebühr schwach und fahl, die Spitzentöne etwa in der letzten Szene sehr knapp und nicht ungefährdet, und die Textgestaltung ist auch nicht so beeindruckend oder raffiniert, dass man über all diese Schwachpunkte hinweghören könnte.

Während ich Michele Pertusi beim Ausspielen der Strenge und des heiligen Ernstes und Zorns des die Sünderin auf den richtigen Weg bringenden Athanael ein wenig eindimensional fand, vermochte er sich gerade im dritten Akt außerordentlich zu steigern und die Wandlung des Mönchs zum von sinnlicher Lust zerfressenen, seinem Glauben abschwörenden Mann bewegend und mitreißend umzusetzen. Leider ging der Präsenzgewinn in interpretatorischer Hinsicht einher mit einer nicht geringen, an heiser-belegten Nebengeräuschen erkennbaren Überanstrengung, wobei man festhalten muss, dass der Bassbariton sich ohnehin keinen Gefallen getan hat mit dieser relativ hoch liegenden Partie: Der hart erarbeiteten Höhe fehlte es an Glanz, der Stimme an der für französische Baritone so typischen "clarté", Geschmeidigkeit und Phrasierungseleganz. William Joyner gewinnt als Nicias zwar im Dialog mit Thais besonders in der mezza voce und im Piano ein wenig an Format, aber in Erinnerung bleiben eher die gequälten Töne am Ende des zweiten Aktes. Christophe Fel besitzt die nötige Bassautorität und Strenge für einen würdevollen Palémon, Tiziana Carraro den richtigen strengen, charaktervoll-reifen Ton für eine würdevoll-dezente Albine, Anna Smiech die Leichtigkeit und Präzision für die effektvollen Koloraturen der Charmeuse (das wäre eine angemessene Partie für Frau Mei, pardon!), während man sich für Nicias' Gespielinnen Crobyle und Myrtale wahrlich liebenswürdigere Stimmen als die von Christine Buffle und Elodie Méchain vorstellen könnte. Einen guten Eindruck hinterlassen dagegen der sehr atmosphärisch singende Chor des La Fenice und das Orchester desselben Instituts, an dessen Pult Marcello Viotti bei seiner ersten Premiere als Musikdirektor des Traditionshauses den Reichtum der betörend instrumentierten, schillernden Partitur auskostet und viel Schwung und Musizierfreude zu entfachen versteht, ohne dass man dabei Transparenz vermissen würde oder sich über übertriebene Süßlichkeit ärgern müsste; den Sängern ist er ein verlässlicher Begleiter.

Wie stets bei Dynamic-Produkten freut man sich über einen informativen Einleitungsartikel (in deutscher, englischer, französischer und italienischer Sprache), das Libretto (dies nur in französischer und englischer Sprache und mit einigen kleinen Abweichungen vom gesungenen Text), einige schöne, aussagekräftige Produktionsfotos und den hervorragenden Sound des Live-Mitschnitts aus dem Teatro Malibran - und ärgert sich, weil man wieder einmal nichts Biografisches über die Mitwirkenden und den Anlass der Aufnahme erfährt, die dem Vernehmen nach den Beginn einer längerfristig geplanten Zusammenarbeit zwischen Dynamic und dem Theater La Fenice markiert. Man möchte der rührigen italienischen Firma allerdings empfehlen, etwas genauer hinzuschauen bei der Auswahl der zu veröffentlichenden Produktionen: An Aufnahmen der Thais herrscht letztlich kein Mangel (wegen des französischen, um die Erfordernisse des Genres wissenden Personals sind sicher die Aufnahmen mit Géori Boué und Roger Bourdin unter Georges Sebastien aus dem Jahre 1952, mit Andrée Esposito und Robert Massard unter Albert Wolff aus dem Jahre 1959 und die zwei Jahre ältere mit Renée Doria und wieder Robert Massard zu nennen, die Jésus Etcheberry dirigiert hat, während die Damen Kabaiwanska, Moffo, Sills und Fleming in der Titelpartie zumindest den Geschmack der Connaisseurs nicht durchgängig treffen), und wenn das Stück unbedingt neu produziert werden muss, dann bitte nur mit einem Ensemble, das sich mit dem französischen Stil und der Sprache besser auskennt und damit dem Werk besser gerecht wird. Dies müsste auch für ein szenisches Revival gelten, das ich mir auch an deutschen Bühnen vorstellen könnte (warum hat etwa die Deutsche Oper am Rhein nach dem Sensationserfolg der Manon nicht weitere französische Opern mit Alexandra von der Weth herausgebracht und diese Produktion anstelle des unglücklichen Capriccio vom La Fenice ausgeliehen?), wenn man einen Regisseur fände, der dieses filigrane, ganz in seiner Entstehungszeit verhaftete fin-de-siècle-Werk ernst nimmt - eine Alternative zur hunderttausendsten Carmen, dem fünfzigtausendsten Hoffmann oder dem zwanzigtausendsten Werther wäre es allemal. Die vorliegende Aufnahme indes möchte man nur Fans der Protagonisten und solchen Sammlern ans Herz legen, die einfach alles besitzen müssen, was der Markt bereit hält.


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Cover

Jules Massenet
Thais

Thais - Eva Mei
Athanael - Michele Pertusi
Nicias - William Joyner
Palémon - Christophe Fel
Crobyle - Christine Buffle
Myrtale - Elodie Méchain
Albine - Tiziana Carraro
La Charmeuse - Anna Smiech
Ein Diener - Enrico Masiero

Orchester und Chor des
Teatro La Fenice di Venezia

Dirigent: Marcello Viotti

Aufnahme: Teatro Malibran,
Venezia, November 2002 (live)


DYNAMIC CDS 427/1-2 (2 CDs)



Da capo al Fine
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