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Darf der Mohr von Venedig in Rossinis Oper vom Mezzosopran gesungen werden?

Otello (über)lebt!

Die rührige italienische Firma dynamic ist in den letzten Jahren mehrfach mit interessanten Live-Mitschnitten mit hochgelobten Solistinnen und Solisten wie Iano Tamar, Dimitra Theodossiou, Patrizia Ciofi, Alexandrina Pendatchanska, Sue Patchell, Raimo Sirkiä, Francesco Ellero d'Artegna oder Raul Gimenez hervorgetreten, häufig in Zusammenarbeit mit dem Festival della Valle d'Itria di Martina Franca, das sich der Ausgrabung vergessener Werke vor allem des 19. Jahrhunderts, aber auch interessanter Alternativ-Versionen derselben verschrieben hat. Einen repräsentativen Überblick über die Aufnahmeaktivitäten bietet der gerade erschienene Sampler (CDT 5015) mit Ausschnitten aus Massenets Roma, Donizettis Anna Bolena, Parisina d'Este, Il Fortunato Inganno und dessen französischer Lucie de Lammermoor, Giordanos Madame Sans-Gêne (mit Mirella Freni in einer ihren späten Erfolgspartien), Pacinis L'ultimo giorno di Pompei, Offenbachs La Grande-Duchesse de Gérolstein (mit der unvergesslichen Lucia Valentini-Terrani), Wagners Frühwerk Die Feen, Meyerbeers Robert le diable, Tschaikowskis Pantöffelchen sowie Verdis Simone Boccanegra und Macbeth (in den Fassungen von 1857 bzw. 1847).

Keine ungetrübte Freude bietet indes die im Sommer 2000 live mitgeschnittene Otello-Vertonung Rossinis. Die 1816 in Neapel uraufgeführte Oper geht nicht auf Shakespeares berühmtes Drama zurück, sondern auf Vorlagen von Jean-Francois Ducis, Gaetano Rossi und Giovanni Carlo Cosenza. Der Kern des Dramas verlagert sich auf den Konflikt Desdemonas, die nach Willen ihres Vaters den Sohn des Dogen heiraten soll, heimlich aber bereits mit Otello verheiratet ist, wie sich gegen Ende des ersten von drei Akten herausstellt. Otellos Rivale heißt hier nicht Cassio, sondern Rodrigo, das vermeintliche corpus delicti ist kein Taschentuch, sondern ein Liebesbrief mit einer Locke der begehrten jungen Frau.

Rossinis opera seria ist auf Tonträgern nicht eben überrepräsentiert; erwähnt seien die Philips-Aufnahme aus dem Jahre 1978 mit José Carreras und Frederica von Stade unter Jesús López Cobos und diejenige von Opera Rara mit Bruce Ford und Elizabeth Futral unter der Leitung von David Parry aus dem Jahre 1998, die ebenso wenig durchgängig froh machen wie die schwerer erhältlichen Mitschnitte aus New York (1957, mit Eileen Farrell als Desdemona!) und Rom (Juni 1960, mit Virginia Zeani und Agostino Lazzari). Bei der vorliegenden Aufnahme sieht man sich mit einer als Malibranfassung bezeichneten Alternativ-Version konfrontiert, die von Fachleuten wie dem Belcanto-Spezialisten Philipp Gossett als historisch höchst zweifelhaft bewertet wird, entspringt sie doch wohl eher der Exzentrik der berühmten Maria Malibran, die sich im Jahre 1831 ihrem Publikum nun auch in der Titelpartie vorstellen wollte (sie hatte zuvor bereits die Desdemona interpretiert); dass Rossini selber sich an diesem Unterfangen beteiligt hätte, lässt sich offenbar nicht belegen, sondern wird im erfreulicherweise ebenso wie die Inhaltsangabe in deutscher, englischer, französischer und italienischer Sprache abgedruckten Einführungsartikel von Giancarlo Landini eben nur behauptet (das nicht immer fehlerfreie Libretto dagegen ist nur in Italienisch und Englisch mitzulesen, und zusätzlich zu den Rollenphotos hätte man sich auch über ein paar biografische Angaben zu den Mitwirkenden gefreut). Ich persönlich komme auch trotz des Wissens um das Phänomen der Kastraten und Hosenrollen an Grenzen meiner Vorstellungskraft, wenn Otello von einem Mezzosopran interpretiert wird, zumal wenn dieser eine so helle, fast sopranige Farbe aufweist wie der von Irine Ratiani, die zudem mit einer insgesamt unruhigen Stimmführung, unangenehm gepressten Spitzentönen (besonders im Duett mit Iago im 2. Akt) und einer kaum vorhandenen Tiefe irritiert, sich auch den virtuosen Anforderungen der Partie nicht durchgängig gewachsen zeigt und einfach keine wirkliche Präsenz beweist. Nein, da hätte es schon ein Kaliber wie früher Marilyn Horne oder heute Ewa Podles sein müssen, um einer Einspielung dieser diskutablen Version eine wirkliche Berechtigung zu verschaffen. Bessere Figur macht da Patrizia Ciofi als vorbildlich artikulierende, berührend mädchenhafte Desdemona, die ihrer Partnerin weit überlegen ist, was die Ausdrucksnuancen angeht und diese etwa im Duett des dritten Aktes mühelos an die Wand singt; freilich könnte man sich auch für diese Partie eine etwas gehaltvollere Stimme mit mehr Substanz in Mittellage und Tiefe vorstellen. Einen glänzenden Eindruck hinterlässt auch der die Rolle des gleichfalls unglücklich liebenden Rodrigo bewegend gestaltende Simon Edwards mit seinem geschmeidigen, angenehm timbrierten und die vertrackten Höhen weitgehend mühelos bewältigendem Tenor, während Gregory Bonfatti als überartikulierender Iago mit meckernd-grellem, tremolierendem Charaktertenor kein Gewinn ist und auch Soon-Won Kang und Barbara Vivian als Elmiro und Emilia ein bisschen reif und strapaziert klingen.

Den Aufgaben gewachsen präsentieren sich die Comprimari und der gar nicht schlechte Chor. Dass die Aufnahme sich mitunter doch ein bisschen zieht, liegt auch am phlegmatisch-spannungsarmen Dirigat von Paolo Arrivabeni, dem es am Pult des durchaus akkurat aufspielenden und durch exzellente Soli aufhorchen lassenden Orchesters vor allem in den Rezitativen nicht gelingt, für den nötigen Schwung zu sorgen - was hätte eine Koryphäe wie Alberto Zedda aus diesem Werk gemacht!

Die Aufnahme weist eine weitere Besonderheit auf: Vor dem geläufigeren Finale tragico, das mit Desdemonas Ermordung und Otellos Freitod endet, hört man ein Finale allegro, das 1819 im Teatro Argentina in Rom mit dem berühmten Tenor Giovanni David zur Aufführung gekommen ist und Musik aus des Meisters kurz zuvor uraufgeführten Opern Armida und Ricciardo e Zoraide übernimmt: Desdemona erwacht und verscheucht Otellos Zweifel mit vernünftigen Erklärungen. Während das dankbare Publikum noch das plötzliche Happy end beklatscht (die nicht wenigen Bühnengeräusche und den Applaus hat man nicht herausgefiltert, was natürlich den Live-Charakter erhöht), beginnen die Mitwirkenden nun mit der Ausführung des tragischen, besser belegten und dramaturgisch überzeugenderen Finale, was mich als Zuschauer einer immerhin szenischen Aufführung doch irritiert hätte.


Von Thomas Tillmann





Cover

Giacchino Rossini:
Otello

Libretto von Francesco Berio di Salsa

Otello (Mezzosopran) - Irine Ratiani
Desdemona (Sopran) - Patrizia Ciofi
Rodrigo (Tenor) - Simon Edwards
Iago (Tenor) - Gregory Bonfatti
Elmiro (Bass) - Soon-Won Kang
Emilia (Mezzosopran) - Barbara Vivian
Doge (Tenor) - Salvatore Cordella
Lucio (Tenor) - Daniele Gaspari
Gondolier (Tenor) - Alessandro Codeluppi

Bratislava Chamber Choir
(Einstudierung: Pavol Procházka)
Orchestra Internazionale d'Italia

Ltg.: Paolo Arrivabeni Live-Aufnahme vom Juli 2000
aus dem Palazzo Ducale, Martina Franca
Koproduktion mit dem Festival
della Valle d'Itria di Martina Franca, Italien

3 CD
dynamic CDS 369/1-3



Da capo al Fine

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