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Hector Berlioz
Symphonie fantastique
„Les francs juges“ Ouvertüre op.3




Tolle Episode aus dem Abo-Alltag

Von Claus Huth

Hector Berlioz’ Symphonie fantastique ist ein populäres und wegen ihrer boxensprengenden Schlusssätze ein schon immer gerne und viel aufgenommenes Werk. Allein in der letzten Zeit hat es unter anderem Neuerscheinungen mit Aufnahmen unter Leitung von Valery Gergiev, Marc Minkowski, Hugh Wolff, Stanislaw Skrowascewski und Michael Tilson Thomas gegeben, von den Aufnahmen, die der Katalog sonst verzeichnet, ganz zu schweigen. Ein Dirigent, der sich in diesen Wettbewerb wirft, muss also etwas zu sagen haben, wenn sich seine Aufnahme am Markt behaupten will.

Roger Norrington, derzeit Chefdirigent des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart des SWR, hat das, und das macht den Wert seiner Neuaufnahme aus. Schon einmal hat sich Norrington des op. 14 angenommen, das den schönen Untertitel „Episode de la vie d’un artiste“ (Episode aus dem Leben eines Künstlers) trägt: 1997 ist bei Virgin Classics seine Sicht auf Berlioz Werk mit den London Classical Players erschienen, einem Ensemble, mit dem Roger Norrington exakt die Besetzung der Uraufführung umsetzte, auf heute vergessene Instrumente wie die Ophicleide oder das Serpent zurückgriff und Instrumente einsetzte, die der Bauweise der Uraufführungszeit entsprachen. Ähnlich, vielleicht sogar radikaler, hatte schon John Eliot Gardiner die Sinfonie 1993 im Saal der Uraufführung im Pariser Ancien Conservatoire mit dem Orchestre révolutionnaire et romantique aufgenommen.

Mit der Neuaufnahme mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR tritt Norrington nun den Beweis an, was man aus diesen Erfahrungen mit alten Instrumenten und dem Wissen um alte Spieltechniken anfangen kann, wenn man sie auf ein Orchester überträgt, das heutige Instrumente benutzt. Nicht zufällig ist im Beiheft ein Foto des Orchesters während der Konzerte, die hier mitgeschnitten wurden, abgedruckt: Die Sitzordnung ist bemerkenswert. Die Streichergruppen sitzen links und rechts des Dirigenten und nehmen Bratschen und Celli zwischen sich in die Mitte. Hinter beiden Geigengruppen haben, leicht erhöht, die vier Harfenistinnen Platz genommen, die Berlioz (mindestens) für den zweiten Satz fordert. Zwei Paukenpaare und zwei Schlagwerkbatterien sind am rechten und linken oberen Bühnenrand platziert, die Kontrabässe sitzen hinter den Holzbläsern und Hörnern in einer Reihe am Bühnenrand, Posaunen und Tuba sind rechts des Orchesters quasi separat gesetzt. Das Ergebnis dieser Aufstellung kann man dank der phänomenal guten Tontechnik des SWR (Andreas Priemer, Friedemann Trumpp, Irmgard Bauer) in dieser Aufnahme zu Hause direkt nachvollziehen: Ein räumlicher, plastischer Orchesterklang, bei dem das schwere Blech nie die Farben in Holz und Streichern zudeckt, grundiert von einem ordentlichen Bassfundament, das durch die Platzierung der Kontrabässe am hinteren Bühnenrand nicht direkt mit der restlichen Streichergruppe in Verbindung gebracht wird. Durch die Aufteilung links-rechts von Violingruppen, Harfen und Schlagzeug entstehen fast in jeden Sätzen herrliche räumliche Effekte, die man nicht vernimmt, wenn die Violingruppen wie üblich auf einem Block zusammensitzen.

Dazu hält Norrington die Musiker an, weitgehend auf Vibrato zu verzichten und nur sehr wenige, ausgesuchte Stellen damit zu veredeln – aber wie edel ist der Klang des vibratolos spielenden Stuttgarter Orchesters an sich! Der Verzicht auf Vibrato führt zunächst dazu, dass alle Musiker sehr viel genauer intonieren müssen, was den Stuttgartern in keinem Moment Probleme bereitet. Und wie herrlich singt etwa der dritte Satz, die „Scène aux champs“, wenn man sie nicht mit dicker Vibratosauce übergießt! Bewundernswert, wie klar und rein plötzlich die Klangfarben nebeneinander stehen, wie fein sie gegeneinander austariert sind. Das allein ist schon ein Genuss!

Norrington nimmt sich deutlich mehr Zeit für das Stück als in seiner alten Aufnahme, ohne dass er auf deren innere Dramatik verzichten würde. Im Gegenteil, in den beiden Schlussätzen, dem „Marche au supplice“ und im „Songe d’une nuit de Sabbat“ kracht es gewaltig, und lustvoll knirschen die Dissonanzen. Norrington meidet den krassen Effekt nicht, wo er in der Partitur auch vorgesehen ist. Auch das Portamento im zweiten Satz scheut er nicht, was ganz bezaubernden Effekt macht. In den ersten drei Sätzen wird schon deutlich, wie genau Norrington von der Phrasierung weiß, über den Klangeffekt hinaus musikalische Abschnitte sinnvoll gliedern kann und mit geradezu stupender Sicherheit Übergänge so organisch gestalten lässt, dass man nur denken kann: So muss es sein. Dass Legato-Vorschriften der Partitur strikt eingehalten werden, versteht sich dabei genauso wie die rhythmische Präzision, die der intonatorischen in nichts nachsteht.

Indem Norrington die Musik als abstrakt ernstnimmt, gewinnt sie erst ihre programmatische Ebene, und nicht wie so oft umgekehrt, wenn einen das Gefühl nicht loslässt, der Dirigent habe zuerst das Programm (das Berlioz eigenhändig verfasst hat) gelesen und dann die Partitur. Selbst in den tosenden Schlussätzen überlässt sich Norrington nie dem Gefühl, sondern behält einen kühlen Kopf im Zusammen- und Gegeneinanderklang der Instrumente und Themen. Und garantiert so, dass beide Sätze zwar nicht so krachledern daherkommen, wie man es manchmal gewohnt ist, aber wesentlich mehr Effekt machen und Eindruck hinterlassen als in Aufnahmen, in denen der Effekt schlicht aufgesetzt ist.

Man kann also den Stuttgartern zu dieser Aufnahme nur gratulieren – das gilt auch für die beigegebenen Ouvertüre „Les francs juges“, dem Beginn einer Oper, aus der eigentlich das musikalische Material zum 4. Satz stammt. Das erfährt man im informativen Einführungstext, der das positive Erscheinungsbild der Aufnahme abrundet.

Verlieren die eingangs genannten Experimente Norringtons und Gardiners dadurch ihre Gültigkeit? Salomonisch gesagt: Jein. Ja, weil Norrington auf vortreffliche Weise zeigt, wie man ein altes Werk mit einem modernen so unerhört frisch klingen lassen kann, dass der Hörer immer wieder angespannt die Ohren spitzt und erstaunt an scheinbar vertrauten Stellen ungeahntes erhört. Nein, weil man die Klangcharakteristik der alten (auch der nicht mehr gebräuchlichen) Instrumente nicht wirklich durch die neuen ersetzen kann. Die rauen, manchmal harschen Klangfarben, die Berlioz bei der Komposition im Ohr gehabt hat, die findet man mehr noch als in der vorliegenden Aufnahme in den genannten Aufnahmen Gardiners und Norringtons. Aber solche Aufführungen werden nicht den Konzertalltag bestimmen können – eine wie die vorliegend Mitgeschnittene stammt mitten aus dem Aboalltag! Chapeau, Sir Roger, Chapeau!

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Hector Berlioz
„Les francs juges“ Ouvertüre op.3
Symphonie fantastique op. 14

Radio-Sinfonieorchester Stuttgart
Dirigent: Roger Norrington


hännsler Classic/SWR music
Aufnahmedatum: 2.-4.7.2003
Aufnahmeort: Liederhalle Stuttgart,
Beethovensaal (live)

Spielzeit: 68:50


Weitere Informationen
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SWR2 - Faszination Musik
Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR







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