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Juan Allende-Blin:
Klaviermusik


Blitz und Stille

Von Gordon Kampe

Wie unglaublich viele und verschiedene Stillen es gibt, beweist die Einspielung der gesamten Klaviermusik von Juan Allende-Blin durch Thomas Günther: Der 1928 in Santiago de Chile geborene und seit 1951 in Deutschland lebende Komponist zeigt in seiner Klaviermusik eine enorme Palette unterschiedlichster Stillen und beweist, dass Stille nicht nur die Abwesenheit von Klang ist, sondern eigene Farben bekommen kann. Durch die unterschiedlichsten, zumeist kurzen Klavier-Gesten werden die Stillen förmlich eingerahmt – so kommt es zu plötzlichen Rissen, zu gespannten, wie zu ruhigen Stillen – in Zeitspanne aus dem Jahr 1974 scheinen sie gar zu schreien. Hängen jene blitzhaft-prägnanten Gesten nur selten offensichtlich zusammen, so entsteht doch der irritierende Eindruck einer ungeheuren Strenge der Komposition, als seien diese Fragmente wirklich pars pro toto – das Ganze jedoch bleibt verborgen.

Beim Hören der Zeitspanne Allende-Blins kommt einem auf merkwürdigem Wege das berühmte Streichquartett Luigi Nonos Stille – Fragmente: An Diotima in den Sinn: Fragmente, Risse und schwarze Löcher verhindern hier wie dort beinahe jegliches narrative Moment der Musik. Es scheint gleich, wie das Stück begonnen hat und wie es enden wird: der Moment des Klanges und der Prozess seines Vergehens, das Werden der Stille ist der Mittelpunkt beider Kompositionen. Erstaunlich aber, dass jenes 1981 bei der Uraufführung als ungeheure Novität gefeierte Nono-Streichquartett immerhin sieben Jahre später entstand als Allende-Blins Klavierstück, das die Aura einiger reduktionistischer Stücke der achtziger Jahre (etwa jene Luigi Nonos, Morton Feldmans und sogar Wolfgang Rihms) bereits zu ahnen scheint.

Wie und in welche Richtungen auch immer die Anregungs-Ströme von Komponisten fließen, wer von wem lernt: das Werk Allende-Blins steht zwar in der Tradition der Darmstädter-Schule (er ist sogar Altersgenosse von Karlheinz Stockhausen und Pierre Boulez!), doch hat seine Musik eine zu eigentümlich farbige Zerbrechlichkeit, um ohne weiteres in eine stilistische Schublade gesteckt werden zu können. Vielleicht ist die unaufdringliche und zurückgenommene Natur seiner Musik ein Grund dafür, warum Allende-Blin im Vergleich zu seinen Altersgenossen nie den fulminanten Durchbruch auf internationaler Bühne geschafft hat. Denn ohne spektakuläre und vordergründige Virtuosität kommt seine Musik daher: Mal erstaunlich transparent und irisierend (etwa in Transformations IV), dann wieder von einer enormen, fast bleiernen Schwere (in Dialogue für zwei Spieler). Allende-Blin verweigert sich nicht nur einer plaudernd-narrativen Musik und jener romantisisierenden Virtuosität – auch die mittlerweile recht üblich gewordenen Spielereien im Inneren des Flügels kommen nicht als bloßer Effekt vor, sondern werden von der Musik, vom jeweiligen Klang geradezu erzwungen. Diese Musik ist jedoch nicht Produkt stetiger Verweigerung: im Gegenteil, sie ist vielmehr eine Herausforderung an den Hörer. Und wer sich dieser Herausforderung stellt, kann davon nur profitieren.

Besonders Zeitspanne und Dialogue, zwei Werke im Abstand von etwa neun Jahren entstanden, ragen wie leider noch fast unentdeckte Leuchttürme aus der avantgardistischen Klaviermusik der letzten dreißig Jahre hervor: sie fordern vom Hörer eine ungeahnte Präsenz und Konzentration – und doch liegt in der Präzision, in ihrer beinahe spröden Kargheit eine unerhörte Sinnlichkeit, die den Moment des Klanges, wie die Gegenwart der Stille gleichermaßen feiert.

Für den ausführenden Musiker ist die zu bewältigende Aufgabe enorm: Virtuose Läufe sind das Eine – aber virtuose Stillen? Der Pianist Thomas Günther, der sich seit Jahren Musiken annimmt, die abseits des pianistischen Mainstreams liegen, hat bereits seit knapp zwei Jahrzehnten immer wieder Kontakt zu Juan Allende-Blin, doch erst 2003 kam es zur Produktion seiner Klaviermusik. In Günther hat Allende-Blin einen herausragenden Interpreten gefunden – und das im Wortsinne. Günther spielt nicht nur die Noten: Er versteht es, dem Klavier feine und hoch-differenzierte Farbnuancen zu entlocken – er ertastet und färbt die Stillen immer wieder neu und anders. Günther liest nicht zwischen Zeilen, sondern zwischen Stillen. Für Günther liegt die Virtuosität nicht im Spielen möglichst vieler Töne in möglichst kurzer Zeit: „Allende-Blin fordert“, so Günther im Gespräch mit dem Online Musik Magazin, „einen blitzschnellen Kopf. Die Virtuosität liegt darin, wie schnell man sich von einem Klang zum nächsten tastet. Das geschieht alles unglaublich schnell, es darf aber so nie klingen.“

Die größte Herausforderung allerdings liege in der immensen Spannung und Anspannung, die alle Stücke brauchen: Das niemals Nachlassen der inneren und äußeren Spannung des Spielers in Pausen von bis zu 40 Sekunden Dauer erfordert ein Höchstmaß an Disziplin. Ein Zurücklehnen und bloßes Warten auf die nächste Aktion wäre der Tod der Musik. Selbst in der Aufnahme klingt diese Disziplin Günthers durch. Der Pianist – man mag das hinkende Bild verzeihen – scheint wie ein Luchs zu sein, ständig auf der Lauer und dann schnappt er zu. Das Bild hinkt, weil Günther nicht rein instinktiv handelt, denn im Gespräch zeichnet er die Erarbeitung des Notentextes als einen analytischen Weg nach. Er weiß um die Verhältnisse zwischen den einzelnen Fragmenten und Gesten und kennt Korrespondenzen, die dem Hörer zunächst verborgen bleiben. Vielleicht entsteht so jenes beschriebene Gefühl einer strengen Komposition, obwohl (und das besonders in Zeitspanne) das Ohr keinerlei Orientierung mehr hat.

Während Günther die virtuosen Stillen in Zeitspanne mit stockendem Atem und kühler Geste meistert, beweist er in Dialogue (gemeinsam mit dem Komponisten, der mit Tennisbällen an den Saiten im Inneren des Flügels spielt) einen enormen Klangsinn. Die schon beschriebene bleierne Schwere der Musik wird zu einem dunkel pulsierendem Klang geknetet – hier zeigt sich, dass Günther (sowohl im Geiste als auch am Instrument vereint mit dem Komponisten) nicht „nur“ der intellektuelle und analytisch-kühle Interpret ist, sondern dass er höchst feinsinnig mit großer Ruhe fast greifbare Klänge plastiziert. Die kleine Sonatine Allende-Blins, ein Frühwerk, dass an vielen Orten noch Anklänge an traditionelle Formen aufweist, gibt dem Pianisten die Gelegenheit, auch seine technisch-motorischen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen: doch selbst hier, wo die virtuose Geste noch ihren Raum hätte, überragt die Kühle und Strenge des Klavierspiels.

In den letzten Jahren beschäftigt sich Günther intensiv mit der Klaviermusik Johann Sebastian Bachs. So führte er schon mehrfach Bachs Wohltemperiertes Klavier auf. Daneben gilt Günthers Augenmerk Komponisten des russischen Futurismus und der Dada-Bewegung (wie Sergej Protopopov und Ivan Wyschnegradsky) sowie Komponisten der jüdischen Exilgeneration – darunter besonders die Musik Erich Itor Kahns. Zusammen mit der Einspielung zeigen diese Aktivitäten Günthers, dass er sich häufig weit abseits vom gewöhnlichen Klavier-Repertoire umsieht und – die Aufnahme mit der Klaviermusik Juan Allende-Blins zeigt es ganz eindeutig – Kostbarkeiten zu Tage fördert, die unterzugehen drohen. Günther macht sich nicht nur durch sein unaufdringliches Spiel um die komplexen Werke verdient, sondern setzt sich ebenfalls für die Realisierung der Produktion ein. Gäbe es noch mehr solch ambitionierter Interpreten-Persönlichkeiten, die Neue Musik hätte vielleicht größere Chancen aus ihrer Nische (in der sie sich allerdings zuweilen auch sehr wohlig eingerichtet hat) herauszutreten. Die auf der CYBELE-Records dokumentierte Zusammenarbeit zwischen Juan Allende-Blin und Thomas Günther ist ein Beweis für den Gemeinplatz, dass ein hervorragender Komponist nichts ohne verantwortungsbewusste Interpreten ist – und umgekehrt.


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Cover

Juan Allende-Blin (*1928):
Das Klavierwerk

Transformations IV
Sonatine
Zeitspanne
Dialogue für 2 Spieler *

Thomas Günther, Klavier
* Juan Allende-Blin (an den Klaviersaiten)


Cybele SACD 160.401




Da capo al Fine

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