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Charles Ives:
Universe Symphony
Symphony Nr. 2


Schöpfungsmythos und musikalische „Ohrfeige“

Von Claus Huth

"Mehrere unterschiedliche Orchester, mit großen Konklaven singender Männer und Weiber, sind in Tälern, an Abhängen und auf den Gipfeln zu postieren; sechs bis zehn unterschiedliche Orchester untergebracht auf mehreren Berggipfeln, jedes in einem eigenen, unabhängigen Zeitlauf in Bewegung, die einander nur treffen, wenn ihre Zeitzyklen zusammenfallen." So das imaginierte Szenario des amerikanischen Komponisten Henry Cowell für eine ideale – bis zu 4.520 (!) Musikern umfassende – Aufführung der von Charles Ives geplanten „Universe“-Symphony.

Es wäre Ives' Fünfte Sinfonie geworden, wenn er die Komposition vollendet hätte. Er hinterließ aber nur umfangreiches Material: etwa 48 Seiten Partiturskizzen, Particelle und sprachliche Anweisungen bezüglich der zu realisierenden Klänge. Mit alldem setzte sich der 1930 geborene Komponist Larry Austin seit 1974 immer wieder auseinander und legte 1993 eine eigene Vollendung dieser „Universe“-Symphony nach dem Plänen von Ives vor, die er als „Ives musikalisches Werk, auskomponiert von Larry Austin“ verstanden wissen will. 4.520 Musiker sind für die Umsetzung dieser Partitur von Ives/Austin natürlich nicht erforderlich, und auch „singende Männer und Weiber“ sucht man vergeblich: Das Skizzenmaterial enthält keine Anhaltspunkte für einen geplanten Chorsatz. Dennoch wird ein gigantischer Aufwand für das rund 37-minütige Werk notwendig. Insgesamt fünf Dirigenten koordinieren neun Orchestergruppen: ein großes Schlagzeugensemble von 19 Spielern und einer Piccoloflöte (für das „Life Pulse Prelude“), ein Blasorchester mit tiefen Holzbläsern und Blech (Felsen symbolisierend), eine Gruppe aus Kontrabässen und Celli (die fast durchgehend den „Erdakkord“ intonieren), zwei Streichorchestern und vier ähnlich besetzten Instrumentalensembles aus hohen Holzbläsern, hohen Streichern, Schlagzeug und Tasteninstrumenten (die „Himmelsorchester“). Die Gruppen agieren zudem noch untereinander und teilweise auch intern in unterschiedlichen Metren und Tempi. Entsprechend selten ist das Werk seit seiner Uraufführung in Cincinnati aufgeführt worden. Zur deutschen Erstaufführung lud das (erweiterte) Rundfunksinfonieorchester Saarbrücken unter der Leitung von Michael Stern, Larry Austin, Johannes Kalitzke, Michael Schmidtsdorf und Christian Voß im Mai 1998 in der Hermann-Neuberger-Sporthalle in Völklingen, wo man einen Raum fand, in der die Raumklang-Konzeption der Partitur angemessen umgesetzt werden konnte. Ein Mitschnitt dieser Aufführung liegt nun zum "Ives-Jahr" 2004 (130. Geburtstag und 50.Todestag des amerikanischen Komponisten) beim Label col legno vor - und er darf getrost als eine der wichtigen Veröffentlichungen dieses Jahres gelten.

Ives setzte sich Zeit seines Lebens mit der Denkrichtung des Transzendentalismus auseinander, so etwa in der gewaltigen „Concord“-Sonate für Klavier, in der ein musikalisches Portrait von Ralph Waldo Emerson, der mit seinen Texten die Grundlage für diese Weltanschauung legte. Die „Universe“-Symphony, in der eine Art musikalische Kosmologie und Schöpfungsgeschichte entwickelt und dargelegt wird, sollte für Ives der Gipfelpunkt dieser Auseinandersetzung sein: Eine Manifestation des Transzendentalen in einer noch nie zuvor so gehörten Musik. Entsprechend schwer ist zu beschreiben, was da erklingt, und doch ist es beim Hören immer nachvollziehbar und sinnfällig.

Auch wenn nicht ganz klar ist, wie viel dieser Komposition von Ives und wie viel von Austin ist, kann sie doch als ein logischer Kulminationspunkt der Ives'schen musikalischen Entwicklung gelten: Ein Werk von ungewöhnlicher formaler Anlage liegt hier vor: Ungefähr die Hälfte der Zeit besteht aus einem "Life Pulse Prelude" für 19 Schlagzeuger und eine Piccoloflöte, in der in polymetrischen Strukturen (jeder der Spieler realisiert ein eigenes Metrum und Tempo, alle acht Sekunden fallen die Metren zusammen) den Lebenspuls des Universums auf ungewöhnliche und faszinierende Weise in Musik fasst, unterlegt von einem durchgehenden "Earth chord" (Erd-Akkord) der Kontrabässe und Celli, bis schließlich die übrigen Orchestergruppen hinzutreten; zunächst zu einer „Introduction“, dann zu drei etwa gleich langen Teilen, in denen Vergangenheit (Chaos, Herausbildung der Wasser und Berge), Gegenwart (die Erde und das Firmament, Evolution in Natur und Menschen) und Zukunft (Himmel, Aufstieg aller Wesen zum Spirituellen) thematisiert werden. All das wurde in einer konzentrierten und spannenden Aufführung festgehalten.

Auch diejenigen, die Ives nicht kennen, kann man diese Aufnahme wärmstes empfehlen, schließlich gibt es als Zugabe noch die zweite Sinfonie aus den Jahren 1897-1901, unter der Leitung von Michael Stern, dem damaligen Chefdirigenten des Rundfunksinfonieorchesters. Schon damals konnte sich das RSO im Kreise der deutschen Spitzenorchester behaupten, was diese Aufführung eindrücklich beweist. Geprägt von sensiblem Klangsinn von vielen amerikanischen Volkslied- und Hymnen-Zitaten, erinnert das Werk nicht nur nicht zufällig an Dvoraks Neunte, aber auch an Brahms Dritte Sinfonie, und bietet so einen guten Einstieg in Ives' Schaffen auch für denjenigen, der mit „modernen“ im allgemeinen und Ives Klangwelten im besonderen noch wenig vertraut ist.

Zwar fehlt dem CD-Mitschnitt naturgemäß das räumliche Element der Aufführung, so dass die einzelnen Orchestergruppen nicht immer ganz leicht zu orten sind, doch tat Tonmeister Thomas Einsfelder sein Bestes, für eine möglichst exakte Übertragung ins stereophone Klangbild zu sorgen und größtmögliche Transparenz im Geschehen zu schaffen. Das Rundfunksinfonieorchester Saarbrücken unter den fünf Dirigenten wirft sich mit hörbarer Entschlossenheit in Ives' kosmologisch-allumfassende Vision, von wenigen Nebengeräuschen am extrem leisen Beginn kaum gestört: Eine große Leistung, und eine Aufnahme, die sicher jeden Ives-Freund und -Kenner interessieren wird.

Stern hat immer das Ganze im Blick und animiert das Orchester mit ordentlichem Drive zu Höchstleistungen, übersieht aber auch die vielen kleinen Details nicht und bringt sie gebührend zur Geltung. So reicht das Spektrum der Aufnahme dem Stück voll entsprechend von lyrischem Schmelz im zweiten Satz über die dauernd wiederkehrenden kleinen, kecken Holzbläsereinwürfen bis hin zu einer großartig aufgeheizten Schlusssteigerung. Und da Stern alle Striche aufmacht, die bis dato immer wieder in Aufführungen der Sinfonie zu finden waren, und mit dem Orchester eine so engagierte, begeisterte und begeisternde Fassung der Sinfonie vorlegt, sei die Behauptung gewagt, dass er mit der wesentlich namhafteren Konkurrenz (etwa: New York Philharmonic unter Leonard Bernstein, Concertgebouw Orchestra Amsterdam unter Michael Tilson Thomas) locker mithalten kann und sie, was Lebendigkeit und Freude des Musizierens bis hin zur disharmonischen "Ohrfeige" des Schlusses angeht, bisweilen sogar übertrifft.

Eine wahre Ohrenweide, die durch das etwas missglückte Beiheft (warum sind die Kommentare Larry Austins zur "Universe-Symphony" nur auf englisch vollständig abgedruckt, in der deutschen Übersetzung aber empfindlich gekürzt?) nicht ernstlich getrübt werden kann. Unbedingt kaufen oder auf den Wunschzettel schreiben.


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Cover

Charles Ives:

Universe Symphony
(realized and completed by Larry Austin)

Second Symphony

Rundfunk-Sinfonieorchester Saarbrücken

Dirigenten:
Michael Stern, Larry Austin,
Johannes Kalitzke, Michael Schmidtsdorff,
Christian Voß

col legno CD 20074









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