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Johann Sebastian Bach / Simon Rattle / Peter Sellars:
Matthäuspassion

Mehr als Stilfragen

Von Stefan Schmöe

Eine einfache Glühbikrne, die trostlos von der Decke herab hängt oder ein Holzquader wie ein Altar oder Opferblock – das sind Bilder, die zu Bachs Matthäuspassion ganz eigene Assoziationen hervorrufen. Für die Salzburger Osterfestspiele 2010 haben die Berliner Philharmoniker unter der Leitung ihres Chefdirigenten Simon Rattle, der Berliner Rundfunkchor, die Knaben des Staats- und Domchores und ein namenhaftes Solistenensemble mit dem amerikanische Kultregisseur Peter Sellars eine halbszenische Version dieser Passion erstellt, die anschließend auch in der Berliner Philharmonie zu sehen war und dort aufgezeichnet wurde – bereits vor einiger Zeit ist dieser Mitschnitt im Eigenverlag der Berliner Philharmoniker auf DVD erschienen.

Natürlich deutet Sellars das Werk nicht naiv als erzählendes Passionsspiel, ist auch wenig an der theologischen Aussage interessiert, sondern möchte szenisch die emotionale Botschaft aufzeigen, die davon ausgeht. So wird der Eingangschor "Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen" ganz direkt als Aufforderung verstanden, sich gegenseitig Trost zu spenden. Vor allem aber rückt der Evangelist ins Zentrum, wird zum Spiegel des Geschehens. Es geht also um uns: Durch die Musiker wird die ganze Menschheit vertreten.

Wenn in diesem theatralischen Rahmen nicht das aus der "alten Musik" gewohnte schlanke Klangbild, sondern orchestrale und vokale Opulenz von mitunter fast opernhaftem Gestus aufgeboten wird, ist das nicht ohne Logik. Das betrifft am wenigsten den grandiosen, in allen Registern klangprächtigen und dennoch nie auftrumpfenden Mark Padmore als Evangelist und auch nicht Christian Gerhaher mit betörend klangschönen, mitunter auch emotional aufgewühlten Christusworten (vom Rang aus mit dem gebührendem Abstand gesungen) – diese beiden Interpreten gehören sicher zum besten, was man auf CD und DVD zu hören bekommt, unabhängig von der Art der Interpretation. Der prächtig volle, "romantische" Klang des Berliner Rundfunkchores mit großen Legatobögen (aber auch sehr nuancierter Ausgestaltung sowie hoher Virtuosität in den schnellen Turbae-Chören) dagegen stellt die Passion in die Tradition der großen Oratorien.

Das gilt auch für das Solistenquartett. Camilla Tilling ist mit strahlendem, vibratoreichem und für diese Partie doch etwas überdimensioniertem Sopran (und leider mitunter abgehackter Diktion) sicher Geschmackssache - die triumphal ausgesungenen Koloraturen in der Arie "Ich will dir mein Herze schenken" klingen mehr nach Prinzessinnendrama als nach Passion. Magdalena Koženás singt mit betörend samtenem und vollem Alt (mitunter stört die überdeutlich gedehnte Artikulation der Konsonanten), ist in ihrem Esspressivo aber auch oft nahe an der Theaterbühne. Topi Lehtipuu hat einen nicht zu schweren und strahlenden, in der Höhe sicheren und beweglichen Tenor. Dagen fällt der an exponierten Stellen markante, bei manchen Übergängen aber unausgeglichen und ungenau intonierende Bass von Thomas Quasthoff etwas ab. Die kleinen Partien sind mit Choristen weitgehend überzeugend besetzt.

Bei aller Bewunderung für die großartigen Solisten der Berliner Philharmoniker stellt sich doch gerade in den Arien mit konzertierenden Solo-Instrumenten auch ein gewisses Unbehagen ein, weil eben dieser Aspekt des Konzertierens zu allerlei Manierismen verleitet (davon ist auch Rattles Dirigat nicht frei). Die Regie stellt die Instrumentalsolisten gerne den Sängern als unmittelbare Dialogpartner auch im szenischen Sinne an die Seite (und das ist hier wörtlich zu verstehen), und natürlich gehört es zum Konzept, dass diese Musiker dann auch mit angemessener Individualität spielen - allein vom Höreindruck gedacht, wäre gerade bei den Holzbläern etwas weniger Vibrato, mehr Verzicht auf Rubato und die eine oder andere Kunstpause oder eigenwillige Phrasierung durchaus wünschenswert. (Und dann wieder spielt Flötist Emmanuel Pahud die Einleitung zur Sopran-Arie "Aus Liebe will mein Heiland sterben" so sterbensschön, dass man es nie wieder anders hören möchte).

Im 50-minütigen Gespräch zwischen Chorleiter Simon Halsey und Regisseur Peter Sellars, das der DVD als sehr sinnvolles Bonus-Material beigegeben ist, wird mehrfach hervorgehoben, dass es hier nicht um "Stilfragen" gehe (als sei das etwas Negatives). Die Suche nach so etwas wie Wahrheit jenseits des Stils kann man allerdings getrost als Wortklauberei auffassen: Natürlich hat diese expressive, betont das subjektiv Empfundene hervorhebende und darin eher "romantische" musikalische Deutung auch ihren ganz eigenen Stil. Simon Rattle hat in seiner Zusammenarbeit mit dem "Orchestra of the Age of Enlightment" ja durchaus Erfahrung mit historischer Aufführungspraxis gesammelt, hier entscheidet er sich bewusst für eine andere Interpretation – auch einen anderen Stil.

Keine Frage, es gibt großartige Momente in dieser Aufführung, etwa die Tenorarie "Geduld, wenn mich falsche Zungen sprechen" mit (von Hille Perl berückend volltönig gespielter) konzertierender Viola da Gamba. Oder den geradezu unheimlichen, von fast apokalyptischen Flötengirlanden umspielte Beginn des (ersten) Chores "Lass ihn kreuzigen" – und das als eingedunkelt düstere Vision gesungene "Sein Blut komme über uns".

Dennoch hinterlässt dieser Mitschnitt in der Summe ambivalente Eindrücke, nicht nur wegen der beschriebenen musikalischen Grundfragen. Sellars Konzept wirkt an vielen Stellen wie eine unnötige (und schnell banale) Dopplung der Musik, ja sogar wie eine einseitig auf die unmittelbare Emotion verengenende Sichtweise. Vielleicht muss man die Aufführung live erlebt haben – ein Mitschnitt hat, trotz der ambitionierten Bildregie (Daniel Finkernagel und Alexander Lück) mit geschickt konzipierten Großaufnahmen, wodurch der "subjektive" Blickwinkel noch unterstrichen wird, seine Grenzen. Der Beifall in der Philharmonie jedenfalls ist groß, das Engagement (und die Betroffenheit) der Mitwirkenden wird plausibel. Eines kann man dieser Aufführung (und dem DVD-Mitschnitt) jedenfalls nicht vorwerfen: Dass sie sich glatt einfügen in die Reihe von Passionsaufführungen. Man muss nicht allem zustimmen, was hier sicht- und hörbar gemacht wird - die Fragen, die hier aufgeworfen werden, gehen über Stilfragen hinaus. Nicht das Schlechteste, was Kunst passieren kann.

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Johann Sebastian Bach:
Matthäuspassion


Inszenierung: Peter Sellars

Mark Padmore, Tenor (Evangelist)
Christian Gerhaher, Bass (Jesus)
Camilla Tilling, Sopran
Magdalena , Alt
Topi Lehhtipuu, Tenor
Thomas Quasthoff, Bass

Knaben des Staats- und Domchores Berlin
(Leitung: Kai-Uwe Jirka)

Rundfunkchor Berlin
(Leitung: Simon Halsey)

Berliner Philharmoniker

Dirigent: Simon Rattle


Live-Mitschnitt aus der Philharmonie Berlin
vom 10. April 2010

2 DVD, Spieldauer:
Konzert 195 Minuten / Bonus: 51 Minuten

© 2012 Berlin Phil Media BPH20011


Weitere Informationen
www.berliner-philharmoniker.de
www.digital-concert-hall.com




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