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Dagmar Manzel:
MENSCHENsKIND


Menschenskind!

Von Thomas Tillmann


Berlin entdeckt in den letzten Jahren "seinen" Friedrich Hollaender wieder: Im Januar 2012 wurde der Rankeplatz in Charlottenburg in Friedrich-Hollaender-Platz umbenannt, an dem Haus Cicerostraße 14 in Berlin-Halensee, das er 1933 wegen des NS-Regimes verlassen musste (übrigens als einer der ersten), wurde im Juni 2009 eine "Berliner Gedenktafel" enthüllt, auf der man zudem erfährt, das Charlie Chaplin ihn den "großen kleinen Friedrich" genannt hat - Friedrich Hollaender war zweifellos "ein ganz Großer in seinem Metier als Komponist und Schriftsteller, Regisseur und Theaterleiter, Kabarettist und Schauspieler". Vor allem seine zahllosen Chansons sind es, in denen er bis heute weiterlebt - auf acht CDs der Firma Bear-Family findet man eine beeindruckende Sammlung und manches Schmankerl. Marlene Dietrich, Greta Keller, Helen Vita, in den letzten zwanzig Jahren dann auch Tim Fischer (1996 zu Hollaenders 100. Geburtstag nahm er die "Lieder eines armen Mädchens" auf) und Georgette Dee (mit der wunderbaren, hoch individuellen Hommage "Nochmal mit Gefühl"), das sind nur einige der ganz Großen, die Hollaenders Lieder, die bis heute zum Kernrepetoire jeder Diseuse und jedes Chansonniers gehören, geprägt und unsterblich gemacht haben. An der Komischen Oper Berlin hatte nun am 7. Februar unter der Regie von Barrie Kosky ein Friedrich Hollaender-Abend Premiere, dessen zentralen Bestandteil Ausschnitte aus dem Deutsche Grammophon-Debütalbum von Dagmar Manzel bilden, einem Album, über das mein Urteil bereits nach dem ersten flüchtigen Anhören feststand: Es ist ein wunderbares. MENSCHENsKIND heißt diese CD - "Menschenskind" ist das erste Wort in "Wenn ich mir was wünschen dürfte", mit ihm beginnt dieses Album (Dagmar Manzel singt die "Menschenskind"-Strophe, nicht aber "Man hat uns nicht gefragt ...", die manche Interpreten und Interpretinnen alternativ oder zusätzlich singen, und man erinnert sich, dass die sehr betagte Marlene Dietrich diese Strophe für Udo Lindenbergs Hermine-Album noch einmal auf Band gesprochen hat), und "Menschenskind!" möchte man auch bewundernd nach dem letzten Ton ausrufen.

Im Zentrum der Aufnahme stehen einige Lieder aus dem bemerkenswerten Zyklus "Lieder eines armen Mädchens", die Hollaender Anfang der zwanziger Jahre für seine erste Frau Blandine Ebinger geschrieben hatte, Lieder um Lieschen Puderbach, einer Figur aus Else Lasker-Schülers Die Wupper (für die Uraufführung im April 1919 hatte Hollaender seine erste große Bühnenmusik geschrieben). Hunger, Sehnsucht, Schmerz, Armut, Liebe und Träume, das sind die Schwerpunkte in diesen Liedern, die den Vergleich zu den Songs von Kurt Weill und Bertolt Brecht nicht zu scheuen brauchen, es sind "leise, zarte, spröde Chanson-Balladen um ... eine spindeldürre, rachitische Kunstfigur", der Blandine "ihr dünnes Lispel-Stimmchen lieh, daß es den abgebrühten Leuten da unten zu Herzen geht, ohne ihren Verstand einzulullen", erläutert Volker Kühn in seiner Hollaender-Biografie Spötterdämmerung. Vom langen Sterben des großen kleinen Friedrich Hollaender, und die Ebinger hat sie auch zweimal eingespielt. Bei aller Bewunderung für die Ältere und ihre sehr spezielle Kunst: Mir geht die Interpretation von Dagmar Manzel näher, die die Lieder sehr zurückhaltend, ernsthaft und leise angeht, sie setzt ganz auf die Ausdruckskraft der Texte, sie vermeidet grelle Effekte, die den Hörer oder die Hörerin von heute allzusehr verstören könnten, sie spielt nicht das kleine Mädchen, sondern entwickelt Mädchenhaftigkeit aus ihren reichen, aber stets ökonomisch eingesetzen Ausdrucksmitteln, sie überzeugt vor allem mit ihrer exzellenten, nie übertrieben wirkenden Diktion, mit großer Musikalität und gar nicht wenig Stimme. Man spürt die Sorgfalt bei der Gestaltung (die Künstlerin erwähnt in ihrer Danksagung die intensiven Proben - wie sympathisch, dass sie sie als "Sternstunden" wahrgenommen hat, jeder Musiker versteht, was sie meint -, in denen sie gemeinsam mit ihrem Pianisten "Texte und Komposition Schritt für Schritt aufgedeckt, untersucht und in vielen Variationen ausprobiert" hat), und doch wirkt nichts unangenehm kalkuliert oder akademisch kühl, sondern dringt sehr natürlich ans Ohr. Würden doch alle Aufnahmen mit solcher Sorgfalt, mit solcher Liebe, mit solchem Wissen um die Erfordernisse des Genres gemacht!

Dagmar Manzel ist eine kluge Frau und spricht in ihrem Beitrag im Booklet die "Herausforderung" offen an, sich "jenen Liedern Hollaenders zu stellen, die vor allem durch Marlene Dietrich bekannt geworden sind". In monatelanger gemeinsamer Arbeit mit dem Pianisten Michael Abramovich, der der Solistin diskret zuarbeitet, sie im besten Sinne begleitet und ihr Sicherheit gibt (ein idealer Partner also), ist sie nach eigenem Bekunden auf der Suche nach dem "richtigen, eigenen Ton ... zu dem zurückgekommen, was meinem ureigensten musikalischen Impuls entspricht. So gehen die Lieder durch mich hindurch und 'singen sich selbst'". Und genau das hört man bei jedem einzelnen Titel, das ist nicht die überdrehte Dagmar Manzel, die mir in Kiss Me, Kate oder Ball im Savoy in manchen Momenten den letzten Nerv geraubt hat, sondern eine gereifte Künstlerin, die nicht mehr anbiedernd-vordergründig aufdrehen muss, um zu überrumpeln, die nicht zwanghaft nach jener exaltierten Originalität suchen muss, die Ute Lempers Interpretationen immer ein wenig anstrengend machen, die keine ermüdenden Manierismen entwickelt wie Tim Fischer das eine oder andere Mal, die aber vor allem tatsächlich etwa bei "Falling in Love Again" (den Hit aus dem Blauen Engel singt sie, begleitet vom Orchester der Komischen Oper Berlin, das bei sechs weiteren Titeln in geschmackvollen Orchestrierungen von Joachim Schmeißer mitwirkt, zunächst auf englisch, als Zugabe dann sehr intim nur mit Klavier auch auf deutsch, wobei mich das dauernde Wechseln zwischen den Lagen ein wenig stört) oder "Peter" keine Parodie von Marlene Dietrich ist, auch wenn sie kurioserweise in den Titeln, die Marlene nicht gesungen hat, mitunter wie diese etwa auf ihrer letzten Platte mit Berliner Liedern klingt.

Bei "Illusions" und "Black Market" allerdings finde ich Marlene idiomatischer, verführerischer, aber wir reden hier letztlich über Geschmacksfragen. Die "Ruins of Berlin" singt Dagmar Manzel sehr langsam, so dass man einmal viel mehr auf die Melodie achtet - man freut sich auch hier, dass sich ein Team Gedanken gemacht hat über verschiedene Möglichkeiten und sich souverän-bewusst für eine entschieden hat. Und man nimmt noch einmal zur Kenntnis, dass die Lieder aus Hollaenders Zeit in Hollywood "auf sich selbst gestellt, auch ohne die Filmstory-bezogene Stimmungs-Kulisse ihren Weg machen" (Volker Kühn) - renommierte Orchester, Jazz-Größen spielten seine Titel ein, Gesangsstars wie Dorothy Lamour, Bing Crosby, Deanna Durbin, Gladys Swarthout, Jo Stafford, Billie Holiday oder Louis Armstrong sangen seine Songs. Hollaender hat an Qualität und Gehalt auch im Exil nichts eingebüßt.

Dagmar Manzel überzeugt schließlich in "Circe" (übrigens mit den originalen Anspielungen auf Heuss und Onassis), weil sie sehr sorgfältig singt und nicht nur spricht, sie ist keine laut schreiende "Hysterische Ziege", sondern auch hier leise, ironisch, spöttisch und hintergründig wie in der "Kleptomanin" oder dem "Nachtgespenst".

Das größte Problem bei einem Hollaender-Projekt ist vielleicht, aus der Fülle des hervorragenden Materials auszuwählen, aber auch hier freut man sich über eine sehr repräsentative Selektion, auch wenn man natürlich gern gewusst hätte, was Dagmar Manzel aus "Jonny, wenn du Geburtstag hast", aus der "Träne im Knopfloch", aus "Wie hab ich nur leben können ohne dich?", aus "Keiner weiß, wie ich bin, nur du" oder "Stroganoff" gemacht hätte. Vielleicht singt sie ja bei den Liveabenden noch das eine oder andere Lied mehr.


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Cover

Dagmar Manzel
MENSCHENsKIND


Lieder von Friedrich Hollaender



1. Wenn ich mir was wünschen dürfte
2. Currendemädchen
3. Das Mädchen mit den Schwefelhölzern
4. The Ruins of Berlin
5. Drei Wünsche
6. Black Market
7. Mädchen, warum weinest du?
8. Falling in Love Again
9. Wenn ick mal tot bin
10. Die Kleptomanin
11. Das Nachtgespenst
12. Illusions
13. Die hysterische Ziege
14. Oh, Mond
15. Circe
16. Peter, Peter, komm zu mir zurück
17. Wiegenlied an eine Mutter
18. Ich weiß nicht, zu wem ich gehöre
19. Zugabe: Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt


Gesamtdauer: Dagmar Manzel, Gesang

Michael Abramovich, Klavier
und Musikalische Leitung
Orchester der Komischen Oper Berlin
Solo-Violine: Gabriel Adorján

Aufnahme:
Berlin, Meistersaal; Berlin,
Emil-Berliner-Studios, September 2013


Deutsche Grammophon 00289 479 2328









Da capo al Fine

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