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Max Richter:
from SLEEP


Ich habe gut geschlafen!

Von Thomas Tillmann


Ich habe glänzend geschlafen - was für andere Komponisten kein Kompliment, sondern eher ein Affront wäre, das würde den britischen Komponisten Max Richter vermutlich sehr freuen, der ein sehr spannendes Projekt initiiert hat: SLEEP ist "mein persönliches Wiegenlied für eine hektische Welt" und "ein Manifest für eine langsamere Gangart des Lebens". Richter hat während der Komposition mit dem Neurowissenschaftler David Eagleman zusammengearbeitet, er versteht seine Arbeit als "Untersuchung des Schlafprozesses", möchte ergründen, wie Menschen Musik in verschiedenen Bewusstseinszuständen erleben und die Frage klären, ob es möglich ist zuzuhören, wenn oder obwohl man schläft.

SLEEP ist ein achtstündiges Werk, das von Anfang an, also wenn der Zuhörer noch wach ist, bis zum Ende, wenn er schläft, ohne Pause gehört, ja erlebt werden soll. Die einstündige Auskopplung "from SLEEP" dagegen kann der Zuhörer anhören, während er wach ist. Ich habe es zum Beispiel an sehr lauten Orten über Kopfhörer gehört, in öffentlichen Verkehrsmitteln etwa, und selbst da entfaltete es seine Wirkung: Ich habe mein Umfeld gelassener wahrgenommen, habe mich nach innen zurückgezogen, bin entspannter am Zielort angekommen - und ich habe das Zuhören sehr genossen, während mir gewöhnliche Einschlafmusik mit dem typischen Meeresrauschen ansonsten eher auf die Nerven geht und somit den gegenteiligen Effekt hat. Grund könnte nicht zuletzt sein, dass Max Richters Musik eben doch auch an "große" Musik vergangener Jahrhunderte anknüpft (zu seinen Vorbildern und Einflüssen gehören Bird, Purcell und Bach bis hin zu Punk, Xenakis, Post-Rock und Ambient Electronica, er interessiert sich sehr für die polyphone Musik der elisabethanischen Epoche, er hat bei Luciano Berio studiert und in Rockbands gespielt, er verbindet barocke Schönheit mit moderner Technik, und auch seine große Erfahrung im Bereich der Filmmusik spürt man), sie ist reflektiert, sie klingt nicht banal oder trivial, sondern gerade auch wegen der subtilen Variationen vielschichtig, mit denen er sich vor Bachs Goldberg-Variationen verbeugt, deren (apokryphe) Entstehungsgeschichte ihn natürlich ebenso wie die musikalische Gestaltung fasziniert. Viele der vermeintlich schlichten Melodien, die eher zyklisch als linear auftauchen und wieder verschwinden wie konzentrische Kreise, sind von großer Schönheit, strahlen wunderbare Ruhe aus, sind auf eine sehr besondere Weise meditativ und lassen viel Raum für individuelle Assoziationen. Das Bewusstsein macht Urlaub - so hat es Richter selber formuliert (leider liegt das schön gestaltete Booklet nur in englischer Sprache vor, da wäre doch zumindest für eine deutsche Zusammenfassung Platz gewesen).

Mit ruhigen, gleichmäßigen, schlichten Klavierakkorde beginnt DREAM 3, nach einiger Zeit kommt eine expressive Cellokantilene dazu, später eine Viola, die das betörend schöne Klanggeflecht komplexer macht, ohne dass der ruhige, beruhigende Grundrhythmus aufgegeben würde. Der erste Track endet wie er begonnen hat, mit den Klavierakkorden. PATH 5 wird bestimmt von einer sphärischen Frauenstimme, die bewegte, aber stets ruhige Töne vorgibt, bald gesellt sich eine zweite Stimme in höherer Lage hinzu (es handelt sich in beiden Fällen um die Sopranistin Grace Davidson), umrankt die erste gleichsam absichtslos, zieht sich wieder zurück, setzt erneut ein. Eine leise registrierte Orgel übernimmt die Führung und bringt ein spirituell-sakrales Element ein, beide überlappen sich, treten aber nicht wirklich in einen Dialog oder gar Wettbewerb ein, und so ergeben sich gleichsam en passant unaufdringliche Klangeffekte von überirdischer Schönheit. Elektronischer kommt SPACE 11 daher, man versinkt in diesen zarten Klangwogen, die in ihrer Unwirklichkeit ein wenig an Nebel an einem schönen Herbsttag denken lassen. DREAM 13 bringt eine verhalten heitere und doch gewichtige Cellomelodie über gebrochenen Klavierakkorden, aus dem Nichts tauchen die höheren Streicher auf, lösen das Cello ab, das dann doch wieder hinzutritt - meine Beschreibungen fangen den Zauber dieser Klänge nur sehr unzureichend ein. Beim Hören von SPACE 21, das von düsteren, diffusen elektronischen Klängen dominiert wird, musste ich an tiefe Entspannung einerseits und Regungen des Unterbewussten andererseits denken. In PATH 19 wurde mir erneut bewusst, dass Klavier und Geige nicht wirklich miteinander musizieren, sondern sich nur hin und wieder treffen. Das klingt alles so leicht und einfach, offenbart nicht sofort die große Kunst, die dahintersteckt. Im letzten Track (DREAM 8) begegnet man noch einmal der ganz instrumental geführten und doch nicht kühl wirkenden Frauenstimme und Streichern, gerade dieser Track strahlt eine große Harmonie aus, und man möchte das exakt 60 Minuten dauernde Werk eigentlich gleich noch einmal hören und sich den eigenen Gedanken weiter hingeben.

Die Uraufführung von SLEEP sollte eigentlich im Oktober in Berlin stattfinden - von Mitternacht bis acht Uhr morgens. Die Zuhörerinnen und Zuhörer sollten statt Sitzplatz und Programm tatsächlich ein Bett erhalten, um im Sinne des Komponisten dieses Werk rezipieren zu können; tatsächlich schien sich die Suche nach einer geeigneten Location so schwierig zu gestalten, dass man nach London ausweichen musste, wo das Werk am 26. September live und vor einigen wenigen Zuschauern im Wellcome Collection's Reading Room uraufgeführt wurde. Die achtstündige Fassung (in die ich natürlich auch immer wieder hineingehört habe und deren Tracks wie die verschiedenen Schlafphasen ineinander übergehen) gibt es leider nur als digitales Album, die einstündige Fassung ist als CD, LP, DL und Stream erhältlich.


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Cover

Max Richter
from SLEEP




1. DREAM 3 (in thhe midst of my life)
2. PATH 5 (delta)
3. SPACE 11 (invisible pages over)
4. DREAM 13 (minus even)
5. SPACE 21 (petrichor)
6. PATH 19 (yet frailest)
7. DREAM 8 (late and soon)

Max Richter, Piano, Organ, Synthesizer, Electronics

American Contemporary Music Ensemble:
Ben Russell, Violine
Yuki Numata Resnick, Violine
Caleb Burhans, Viola
Clarice Jensen, Cello
Brian Snow, Cello
Grace Davidson, Sopran

Aufnahme:
New York, März 2015 (Instrumentalaufnahmen) London, Februar 2015 (Gesangsaufnahmen) Berlin (ohne Datumsangabe, Elektronische Aufnahmen)


Deutsche Grammophon 00289 479 5258









Da capo al Fine

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